Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
meine Stadt und meine Stadt wird angegriffen. Meine Wut steigert sich noch.
Tony reißt das Mädchen hoch. Sie wehrt sich, obwohl sie allein ist und kräftemäßig deutlich unterlegen. Die Haare hängen ihr ins Gesicht und sie tritt um sich und kratzt wie ein Tier.
Vielleicht bringe ich die hier persönlich um.
lena
A
ls ich es bis zur Forest Avenue geschafft habe, sind die Kampfgeräusche leiser geworden, werden vom schrillen Kreischen der Sirenen überdeckt. Dann und wann sehe ich eine Hand an einem Vorhang zucken, oder ein Auge wie ein Goldfischglas, das auf mich herunterschielt und dann genauso schnell wieder verschwindet, wie es aufgetaucht ist. Alle bleiben eingesperrt und weggeschlossen.
Ich halte den Kopf gesenkt, bewege mich so schnell ich kann trotz des pochenden Schmerzes in dem Knöchel, mit dem ich umgeknickt bin, und höre auf die Geräusche von Polizeieinheiten und Patrouillen. Man sieht mir sofort an, dass ich eine Invalide bin: Ich bin schmutzig, trage alte, schlammverkrustete Kleider und mein Ohr ist immer noch blutbeschmiert. Doch erstaunlicherweise sind die Straßen wie leer gefegt. Die Sicherheitskräfte sind offenbar woandershin verlegt worden, das hier ist schließlich der ärmlichere Teil der Stadt; zweifellos hat die Stadt nicht das Gefühl, dass auch die Leute hier geschützt werden müssen.
Ein Pfad und ein Weg für alle … und für manche ein Pfad, der direkt unter die Erde führt.
Ich erreiche problemlos die Cumberland Street. Sobald ich meine alte Straße betrete, glaube ich, in einem Stillleben aus der Vergangenheit gefangen zu sein. Es kommt mir Ewigkeiten her vor, dass ich auf dem Rückweg von der Schule diese Straße entlanggegangen bin; dass ich hier nach dem Laufen Dehnübungen gemacht habe, ein Bein auf die Lehne der Bank an der Bushaltestelle gelegt; dass ich Jenny und den anderen Kindern dabei zugesehen habe, wie sie eine Dose umherkickten, und im Sommer die Hydranten für sie geöffnet habe, wenn es heiß war.
Aber es ist ja auch Ewigkeiten her. Ich bin jetzt eine andere Lena.
Die Straße sieht auch anders aus – irgendwie schlaffer, als würde ein unsichtbares schwarzes Loch die ganze Häuserzeile langsam verschlingen. Noch bevor ich das Gartentor von Haus Nummer 237 erreiche, weiß ich, dass es leer sein wird. Die Gewissheit hat sich wie ein schweres Gewicht in meiner Lunge eingenistet. Aber trotzdem stehe ich benommen mitten auf dem Bürgersteig und starre zu dem verlassenen Gebäude hinauf – meinem Zuhause, dem alten Haus mit meinem kleinen Schlafzimmer im ersten Stock, dem Geruch nach Seife, frischer Wäsche und gekochten Tomaten –, ich registriere den abblätternden Putz und die morschen Verandastufen, die verrammelten Fenster, das verblichene rote X , das auf die Tür gesprüht wurde und das Haus als unbewohnbar kennzeichnet.
Es ist, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube erhalten. Tante Carol war immer so stolz auf das Haus. Es verging keine Jahreszeit, ohne dass sie nicht irgendetwas strich, die Regenrinne sauber machte, die Veranda schrubbte.
Dann wird aus Trauer Panik. Wo sind sie hin?
Was ist aus Grace geworden?
In der Ferne dröhnt das Nebelhorn und klingt wie ein Trauerlied. Ich zucke zusammen und mir fällt plötzlich wieder ein, wo ich bin: in einer fremden, feindlichen Stadt. Das ist nicht länger mein Zuhause; ich bin hier nicht willkommen. Das Nebelhorn tutet ein zweites und dann noch ein drittes Mal. Das Signal bedeutet, dass alle drei Bomben erfolgreich abgelegt wurden; das gibt uns eine Stunde, bis sie hochgehen und hier die Hölle los ist.
Ich habe also nur noch eine Stunde, um sie zu finden – und ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.
Hinter mir knallt ein Fenster zu. Ich drehe mich gerade rechtzeitig um, um noch zu sehen, wie ein besorgtes weißes Mondgesicht – sieht aus wie Mrs Hendrickson – hinter der Gardine verschwindet. Eins ist offensichtlich: Ich muss hier weg.
Mit gesenktem Kopf gehe ich eilig die Straße entlang, biege ab, sobald ich an eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern komme. Ich gehe jetzt blindlings weiter, hoffe, dass mich meine Füße in die richtige Richtung tragen. Grace, Grace, Grace. Ich bete, dass sie mich irgendwie hört.
Ich gehe ohne zu gucken über die Mellen Street auf eine weitere Gasse zu, ein schwarzes, aufgerissenes Maul, ein Ort mit Schatten am Rand, der mich verbergen könnte. Grace, wo bist du? In meinem Kopf schreie ich die Worte – schreie sie so laut, dass sie
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