Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
–, ihr zu sagen, wie sehr sie mir gefehlt hat.
Gerade rechtzeitig fängt sie meinen Blick auf und presst ihren Mund zu einem schmalen Strich zusammen. Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass die alte Hana weg ist. Sie riecht wahrscheinlich nicht mal mehr wie früher. Sie hat mir nicht eine einzige Frage darüber gestellt, was mir passiert ist, wo ich gewesen bin, was ich blutüberströmt und mit dreckverkrusteten Kleidern in Portland mache. Sie hat mich kaum angesehen und wenn, dann mit einer unbestimmten distanzierten Neugier, als wäre ich ein seltenes Tier im Zoo.
Ich rechne damit, dass wir Richtung West End abbiegen, aber stattdessen verlassen wir die Halbinsel. Hana ist offenbar umgezogen. Die Häuser hier sind sogar noch größer und herrschaftlicher als in ihrem früheren Viertel. Ich weiß nicht, warum mich das überrascht. Das ist eins der Dinge, die ich während meiner Zeit bei der Widerstandsbewegung gelernt habe. Beim Heilmittel geht es um Kontrolle. Um Struktur. Und die Reichen werden immer reicher, während die Armen in schmale Gassen und enge Wohnungen gezwängt werden und man ihnen Schutz verspricht und ihnen sagt, sie würden im Himmel für ihren Gehorsam belohnt. Sklaverei wird Sicherheit genannt.
Wir biegen in eine Straße ein, die von alten Kastanienbäumen gesäumt wird, deren Äste ineinander verschlungen sind und einen Baldachin bilden. Ein Straßenschild blitzt auf: Essex Street. Mein Magen verkrampft sich wieder. In der Essex Street 88 hat Pippa die Bombe deponiert. Wie lange ist es her, seit das Nebelhorn getutet hat? Zehn Minuten? Fünfzehn?
Unter meinen Armen sammelt sich der Schweiß. Ich mustere im Vorbeifahren die Briefkästen. Eins dieser Zuhause – eins dieser prächtigen weißen Häuser, die wie Torten von Gitterwerk und Kuppeln gekrönt werden, von breiten weißen Veranden umgeben sind und zurückgesetzt auf leuchtend grünen Rasenflächen stehen – wird in weniger als einer Stunde in die Luft fliegen.
Der Wagen hält vor einem verzierten Eisentor. Der Fahrer beugt sich aus dem Fenster, um einen Code auf einer Tastatur einzutippen, und das Tor schwingt mit einem leisen Surren auf. Es erinnert mich an Julians altes Haus in New York und bringt mich nach wie vor zum Staunen: all diese Macht, all diese Energie, die in eine Handvoll Leute fließt.
Hana sieht immer noch ausdruckslos aus dem Fenster und ich verspüre den plötzlichen Drang, mit der Faust in ihr Spiegelbild zu schlagen. Sie hat keine Ahnung, wie der Rest der Welt aussieht. Sie hat nie Entbehrungen erfahren oder ohne Essen, Heizung und Komfort auskommen müssen. Ich staune, dass sie überhaupt mal meine beste Freundin war. Wir haben schon immer in zwei verschiedenen Welten gelebt; ich war nur blöd genug zu glauben, das spiele keine Rolle.
Hoch aufragende Hecken umgeben das Auto auf beiden Seiten und säumen eine kurze Auffahrt, die zu einem weiteren riesigen Haus führt. Es ist noch größer als alle, die wir bisher gesehen haben. Über der Haustür hängt eine Nummer aus Eisen.
88.
Mir wird schwarz vor Augen. Ich blinzele. Aber die Nummer ist immer noch da.
Essex Street 88. Die Bombe ist hier. Schweiß rinnt mir über den Rücken. Das ergibt doch keinen Sinn; die anderen Bomben sind alle in der Innenstadt, in städtischen Gebäuden wie letztes Jahr.
»Hier wohnst du?«, frage ich Hana. Sie steigt gerade aus dem Auto, immer noch mit dieser nervenzerfetzenden Ruhe, als machten wir einen Höflichkeitsbesuch.
Sie zögert erneut. »Das ist Freds Haus«, sagt sie. »Ich nehme mal an, jetzt gehört es uns beiden.« Als ich sie anstarre, ergänzt sie: »Fred Hargrove. Er ist jetzt der Bürgermeister.«
Ich hatte völlig vergessen, dass Hana Fred Hargrove zugeteilt worden war. Wir haben über die Widerstandsbewegung Gerüchte gehört, dass Hargrove senior während der Zwischenfälle ums Leben gekommen ist. Fred hat offenbar den Platz seines Vaters eingenommen. Jetzt ergibt es langsam einen Sinn, dass die Bombe hier deponiert wurde; nichts hat mehr Symbolkraft, als den Anführer direkt zu treffen. Aber wir haben uns verkalkuliert – Fred ist nicht zu Hause. Sondern Hana.
Mein Mund ist ganz trocken und juckt. Einer ihrer Schläger versucht mich zu packen und aus dem Auto zu zerren, aber ich reiße mich los.
»Ich werd schon nicht abhauen«, schleudere ich ihm entgegen und steige selbst aus. Ich käme nicht weiter als einen Meter, bevor sie das Feuer eröffnen würden. Ich muss sorgfältig beobachten, nachdenken
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