Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Straßen und Sackgassen. Selbst wenn Lenas Familie irgendwo hier in der Gegend haust, heißt das noch lange nicht, dass ich sie finden werde.
Aber meine Füße machen einen Schritt vor den anderen, als würden sie von etwas anderem als meinem Gehirn angetrieben. Der Wind streicht ruhig über die leeren Grundstücke und es riecht nach Verwesung. Ich komme an einem alten, offen liegenden Fundament vorbei und muss komischerweise an die Röntgenbilder denken, die mein Zahnarzt mir gezeigt hat: zahnförmige graue Gebilde, wie ein aufgeklappter Kiefer, der an den Boden genagelt ist.
Dann rieche ich Rauch; schwach aber eindeutig, mit den anderen Gerüchen verwoben.
Irgendwo brennt ein Lagerfeuer.
An der nächsten Kreuzung biege ich links ab in die Wynnewood Road. Das hier sind die Highlands, an die ich mich aus dem letzten Sommer erinnere. Die Häuser hier wurden nicht abgerissen. Sie ragen immer noch düster und leer hinter dichten Gruppen alter Kiefern empor.
Meine Kehle schnürt sich zusammen und entspannt sich wieder, schnürt sich zusammen und entspannt sich. Brooks Street 37 kann jetzt nicht mehr weit sein. Ich habe plötzlich Angst, dort vorbeizukommen.
Da treffe ich eine Entscheidung: Wenn ich auf die Brooks Street stoße, ist das ein Zeichen, dass ich umkehren soll. Dann gehe ich nach Hause; ich vergesse diese alberne Mission.
»Mama, Mama … hilf mir heim …«
Der Singsang lässt mich innehalten. Ich stehe einen Moment ganz still und mit angehaltenem Atem da und versuche, die Quelle des Geräuschs auszumachen.
»Bin draußen im Wald, bin ganz allein …«
Die Worte stammen aus einem alten Kinderreim über die Ungeheuer, die angeblich in der Wildnis leben. Vampire, Werwölfe, Invaliden. Nur dass sich inzwischen herausgestellt hat, dass es die Invaliden wirklich gibt.
Ich verlasse die Straße und betrete das Gras, schlängele mich zwischen den Bäumen hindurch, die die Straße säumen. Ich gehe langsam und bin vorsichtig darauf bedacht, immer erst ganz leicht die Zehen aufzusetzen, bevor ich mein Gewicht verlagere – die Stimme ist so leise, so weit entfernt.
Ich biege um eine Ecke und sehe ein Mädchen, das in einem großen Fleck aus Sonnenlicht mitten auf der Straße hockt. Ihre strähnigen schwarzen Haare hängen ihr wie ein Vorhang vor dem Gesicht. Sie besteht nur aus Haut und Knochen. Ihre Kniescheiben sehen aus wie zwei spitze Segel.
In der einen Hand hält sie eine schmutzige Puppe, in der anderen einen angespitzten Stock. Die Haare der Puppe sind aus verfilzter gelber Wolle und ihre Augen schwarze Knöpfe, von denen allerdings nur noch einer in ihrem Gesicht sitzt. Der Mund ist nichts weiter als ein paar Stiche roten Garns, obwohl sich auch die bereits lösen.
»Ich traf einen Vampir; mit Zähnen, so groß …«
Ich schließe die Augen, als mir die restlichen Zeilen des Reims wieder einfallen.
Mama, Mama, bring mich zu Bett,
Ich schaff’s nicht mehr heim, werd hier sterben im Dreck.
Ich traf den Invaliden mit einem Lächeln, so groß,
Ich verfiel seiner Kunst und auf mein Herz ging er los.
Als ich die Augen wieder öffne, sieht sie kurz auf, während sie ihren behelfsmäßigen Pfahl in die Luft stößt, als wehrte sie einen Vampir ab. Einen Augenblick hält alles in mir inne. Es ist Grace, Lenas jüngere Großcousine. Lenas Lieblingscousine.
Es ist Grace, die nie ein Wort zu jemandem gesagt hat, nicht ein einziges Mal in den sechs Jahren, die ich sie habe aufwachsen sehen.
»Mama, bring mich zu Bett …«
Obwohl es im Schatten der Bäume kühl ist, haben sich Schweißperlen zwischen meinen Brüsten gesammelt. Ich spüre, wie sie sich einen Weg hinunter zu meinem Bauch bahnen.
»Ich traf den Invaliden mit einem Lächeln, so groß …«
Jetzt nimmt sie den Stock und bearbeitet damit den Hals der Puppe, als machte sie eine Eingriffsnarbe.
»Das Persönliche Sicherheits- und Schutztraktat heißt Psst «, singt sie.
Ihre Stimme ist jetzt höher, ein einschläferndes Gurren. »Psst. Sei ein braves Mädchen. Das tut nicht weh, versprochen.«
Ich kann nicht länger zusehen. Sie stößt gegen den beweglichen Hals der Puppe, und deren Kopf nickt zustimmend. Ich trete zwischen den Bäumen hervor.
»Gracie«, rufe ich ihr zu. Unbewusst habe ich einen Arm ausgestreckt, als näherte ich mich einem wilden Tier.
Sie erstarrt. Ich mache noch einen vorsichtigen Schritt auf sie zu. Sie umklammert den Stock in ihrer Hand so fest, dass ihre Knöchel ganz weiß werden.
»Grace.« Ich
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