Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
einer Gruppe von ihnen begegnet.«
Pippa scheint nicht überrascht zu sein. Sie weiß anscheinend schon, dass die Aufseher bis in die Wildnis vorgedrungen sind. »Kein Wunder, dass ihr alle so furchtbar ausseht«, sagt sie sanft. »Los geht’s. Gleich macht die Küche auf. Jetzt setzt euch erst mal.«
Julian ist ganz still. Ich kann seine Anspannung spüren. Er sieht sich dauernd um, als rechnete er jeden Moment damit, dass ihn jemand aus dem Schatten anspringen würde. Jetzt, wo wir diesseits der Lagerfeuer sind, von Wärme und Licht umgeben, wirkt der Rest des Lagers wie ein verschwommener Schatten: sich windende, dahinfließende Dunkelheit, in der Tiergeräusche zu hören sind.
Ich kann mir nur vorstellen, was Julian wohl von diesem Ort hält, was er von uns hält. So sah das Bild der Welt aus, vor der er immer gewarnt worden ist: Eine Welt der Krankheit ist eine Welt aus Chaos und Dreck, Selbstsucht und Unordnung.
Ich werde ungerechtfertigterweise wütend auf ihn. Seine Anwesenheit und seine Nervosität erinnern mich daran, dass es einen Unterschied zwischen seinen Leuten und meinen gibt.
Tack und Raven haben eine der Bänke in Besitz genommen, Lu, Dani, Hunter und Bram quetschen sich auf die andere. Julian und ich setzen uns auf den Boden, Alex bleibt stehen. Coral sitzt direkt vor ihm und ich versuche angestrengt zu ignorieren, dass sie sich an seine Schienbeine gelehnt hat und ihr Hinterkopf seine Knie berührt.
Pippa nimmt einen Schlüssel, der ihr um den Hals hängt, und schließt den großen Kühlschrank auf. Darin stehen Reihen über Reihen von Lebensmitteln in Dosen, außerdem Reispackungen. Die unteren Fächer sind vollgestopft mit Verbandsmaterial, antibakterieller Salbe und Ibuprofen. Während Pippa in Bewegung ist, erzählt sie uns von dem Lager und den Aufständen in Waterbury, die zu seiner Entstehung geführt haben.
»Es begann auf der Straße«, erklärt sie, während sie Reis in einen großen, zerbeulten Topf füllt. »Hauptsächlich Jugendliche. Ungeheilte. Einige von ihnen wurden von den Sympathisanten aufgestachelt und wir haben auch ein paar Mitglieder des W. als Maulwürfe eingeschleust, um die Leute bei der Stange zu halten.«
Ihre Bewegungen sind kontrolliert, sie verschwendet keine Energie. Aus der Dunkelheit tauchen Leute auf, um ihr zu helfen. Bald stehen mehrere Töpfe auf einem der Feuer am Rand. Rauch – köstlich vermischt mit Essensgerüchen – zieht zu uns herüber.
Dann plötzlich verschiebt sich etwas, verändert sich in der uns umgebenden Dunkelheit: Ein Kreis aus Leuten hat sich versammelt, eine Mauer aus dunklen, hungrigen Augen. Zwei von Pippas Männern stehen mit gezückten Messern Wache neben den Töpfen.
Ich schaudere, aber Julian legt nicht den Arm um mich.
Wir essen Reis und Bohnen mit den Fingern direkt aus einem gemeinsamen Topf. Pippa hält nicht still. Sie läuft mit vorgerecktem Hals, als rechnete sie ständig damit, auf ein Hindernis zu stoßen, das sie mit dem Kopf durchbrechen will. Sie hört auch nicht auf zu reden.
»Der W. hat mich hergeschickt«, sagt sie. Raven hat gefragt, wie sie hier in Waterbury gelandet ist. »Nach all den Aufständen in der Stadt dachten wir, wir hätten gute Chancen, eine Protestbewegung zu organisieren, eine größere Widerstandsaktion zu planen. Im Moment leben so um die zweitausend Leute hier im Lager. Das ist ein riesiges Potenzial.
»Und wie läuft es?«, fragt Raven.
Pippa hockt sich neben das Lagerfeuer und spuckt aus. »Wonach sieht es denn aus? Ich bin jetzt seit einem Monat hier und habe vielleicht hundert Leute gefunden, denen die Sache etwas bedeutet und die bereit sind zu kämpfen. Die anderen sind zu ängstlich, zu müde oder zu erschöpft. Oder es ist ihnen einfach egal.«
»Was hast du also vor?«, fragt Raven.
Pippa breitet die Hände aus. »Was kann ich schon tun? Ich kann sie nicht zwingen, mitzumachen, und ich kann den Leuten nicht sagen, was sie zu tun haben. Das ist hier schließlich nicht Zombieland, stimmt’s?«
Ich habe offenbar eine Grimasse gezogen, denn sie sieht mich scharf an.
»Was?«, fragt sie.
Ich blicke hilfesuchend zu Raven hinüber, aber ihre Miene ist ausdruckslos, woraufhin ich mich wieder an Pippa wende. »Es muss doch einen Weg geben …«, sage ich vorsichtig.
»Ja, meinst du?« Ihre Stimme hat jetzt einen harten Unterton. »Wie denn? Ich habe kein Geld, also kann ich sie nicht bestechen. Wir sind nicht stark genug, um sie zu bedrohen. Ich kann sie nicht
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