Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
überzeugen, wenn sie mir nicht zuhören wollen. Willkommen in der freien Welt. Wir geben den Menschen die Macht sich zu entscheiden. Sie können sich sogar für das Falsche entscheiden. Nett, was?« Sie steht unvermittelt auf und entfernt sich vom Feuer. Als sie weiterspricht, ist ihre Stimme gefasst. »Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich warte auf Anweisungen von weiter oben. Vielleicht ist es besser, weiterzuziehen, diesen Ort seinem Schicksal zu überlassen. Aber wenigstens sind wir hier im Moment in Sicherheit.«
»Habt ihr keine Angst vor Angriffen?«, fragt Tack. »Glaubst du nicht, dass die Stadt Vergeltung üben wird?«
Pippa schüttelt den Kopf. »Die Stadt wurde nach den Aufständen fast vollständig evakuiert.« Ihr Mund verzieht sich zu einem kleinen Lächeln. »Angst vor Ansteckung – die Deliria breitet sich in den Straßen aus und macht uns alle zu Tieren.« Dann verblasst das Lächeln. »Ich sag euch was. Was ich hier erlebt habe … Vielleicht haben sie sogar Recht.«
Sie gibt Raven den Stapel Decken. »Hier. Mach dich nützlich. Ihr müsst teilen. Die Decken sind noch schwerer zu beschützen als die Töpfe. Legt euch hin, wo ihr Platz findet. Ihr solltet allerdings nicht allzu weit weggehen. Es gibt hier ein paar Wahnsinnige. Ich hab schon alles gesehen – verpfuschte Eingriffe, Spinner, Kriminelle, alles, was ihr euch vorstellen könnt. Süße Träume, Kinder.«
Erst als Pippa vom Schlafen spricht, merke ich, wie erschöpft ich bin. Ich habe seit über sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen und bis zu diesem Moment hat mich hauptsächlich die Angst davor, was aus uns werden soll, angetrieben. Jetzt fühlt sich mein Körper bleiern an. Julian muss mir beim Aufstehen helfen. Ich gehe blind wie eine Schlafwandlerin hinter ihm her, bin mir meiner Umgebung kaum bewusst. Wir entfernen uns von der dreiseitigen Hütte.
Julian bleibt neben einem heruntergebrannten Lagerfeuer stehen. Wir befinden uns am Fuß des Hügels. Hier ist der Abhang noch steiler als der, über den wir gekommen sind, und es gibt keinen Pfad.
Der harte Boden, die eisige Kälte, die fortwährenden Rufe und Schreie um uns herum, die lebendige und bedrohliche Dunkelheit – all das ist mir egal. Als Julian sich hinter mich legt und uns beide zudeckt, bin ich bereits woanders: Ich bin im alten Stützpunkt, im Krankenzimmer, und Grace ist auch da und spricht mit mir, sagt immer wieder meinen Namen. Aber ihre Stimme wird vom Flattern schwarzer Flügel verschluckt, und als ich aufblicke, sehe ich, dass das Dach von den Bomben der Aufseher zerfetzt wurde und statt der Decke sind dort nur der dunkle Nachthimmel und Tausende und Abertausende Fledermäuse, die den Mond verdecken.
hana
A
ls ich aufwache, streift die Dämmerung gerade erst den Horizont. Irgendwo vor meinem Fenster schreit eine Eule und mein Zimmer ist voller schwebender dunkler Schatten.
In fünfzehn Tagen werde ich verheiratet sein.
Zusammen mit Fred durchschneide ich das Band an der neuen Grenzmauer, einer fast fünf Meter hohen Konstruktion aus Stahlbeton. Sie soll nach und nach all die Elektrozäune ersetzen, die Portland bisher umgeben.
Der erste Bauabschnitt, der nur zwei Tage nach Freds Amtseinführung abgeschlossen wurde, erstreckt sich von Old Port vorbei an der Tukey’s Bridge bis hin zu den Grüften. Der zweite Bauabschnitt – die Mauer bis zum Fore River – wird erst in einem Jahr fertiggestellt sein; weitere zwei Jahre später soll dann das letzte Mauerstück stehen und die beiden Abschnitte miteinander verbinden. Dann wird die Befestigung der Grenze gerade rechtzeitig zu Freds Wiederwahl abgeschlossen sein.
Während der Zeremonie tritt Fred mit einer überdimensional großen Schere vor und lächelt die Journalisten und Fotografen an, die sich vor der Mauer zusammendrängen. Es ist ein strahlend sonniger Morgen – ein verheißungsvoller und vielversprechender Tag. Er hebt die Schere theatralisch zu dem breiten roten Band, das um den Beton geschlungen ist. Im letzten Moment hält er inne, dreht sich um und winkt mich zu sich.
»Ich möchte, dass meine zukünftige Frau diesen Wendepunkt einleitet!«, ruft er, und lauter Beifall ertönt, als ich errötend vortrete und Überraschung simuliere.
Natürlich ist das alles einstudiert. Er spielt seine Rolle. Und ich achte sorgfältig darauf, auch meine zu spielen.
Die Schere, die für Showzwecke gefertigt wurde, ist stumpf und ich habe Schwierigkeiten, das Band damit zu durchtrennen. Nach
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