Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Fragen.
Ich mache einfach.
Die Fahrt nach Deering Highlands fällt mir schon leichter. Glücklicherweise begegne ich niemandem. Ich stelle die Vorräte an Lebensmitteln und Benzin in dem Keller ab, den Grace mir gezeigt hat.
Anschließend fahre ich zur Preble Street, wo Lenas Onkel früher seinen kleinen Lebensmittelladen hatte. Wie ich vermutet habe, ist er jetzt geschlossen und verrammelt. Metallgitter schützen die Fenster; hinter dem Stahl sehe ich Graffiti auf den Scheiben. Die royalblaue Markise ist zerrissen und hängt schief herab. Eine lange dünne Metallstrebe, die aussieht wie ein zweigliedriges Spinnenbein, hat sich vom Stoff gelöst und schwingt wie ein Pendel im Wind. Auf einem kleinen Schild an einem der Metallgitter steht: demnächst eröffnet hier bees frisörsalon .
Die Stadt hat ihn ganz offensichtlich gezwungen, den Laden zu schließen, oder die Kunden sind ausgeblieben, besorgt, dass sie wegen des Kontakts zu ihm ebenfalls für schuldig erklärt würden. Lenas Mutter, Lenas Onkel William und jetzt auch Lena …
Zu viel schlechtes Blut. Zu viel Krankheit.
Kein Wunder, dass sie sich in Deering Highlands verstecken. Kein Wunder, dass sich auch Willow dort versteckt. Ich frage mich, ob das eine freiwillige Entscheidung war – oder ob sie gedrängt, gezwungen oder bestochen worden sind, aus der besseren Gegend wegzuziehen.
Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt, hintenherum zu gehen, zu der schmalen Gasse und der kleinen blauen Tür, die früher in den Lagerraum führte. Lena und ich haben uns oft hier aufgehalten, wenn sie nach der Schule die Regale auffüllte.
Die Sonne steht bereits tief hinter den Giebeldächern der Häuser um mich herum und scheint direkt über die Gasse hinweg, in der es dunkel und kühl ist. Um einen Müllcontainer herum schwirren Fliegen, summen und stoßen gegen das Metall. Ich steige vom Rad und lehne es an eine der beigefarbenen Betonwände. Die Geräusche von der Straße – Leute, die sich etwas zurufen, das gelegentliche Rumpeln eines Busses – dringen nur noch entfernt an mein Ohr.
Ich mache einen Schritt auf die blaue Tür zu, die mit Taubendreck beschmiert ist. Einen Moment scheint die Zeit sich zu überlappen und ich stelle mir vor, dass Lena mir die Tür aufmachen wird wie früher immer. Ich werde mich auf eine der Kisten mit Baby-Milchnahrung oder Dosen mit grünen Bohnen setzen, wir teilen uns eine Tüte Chips und eine Limo, die wir aus dem Lager geklaut haben, und wir reden über …
Was?
Worüber haben wir damals geredet?
Über die Schule wahrscheinlich. Über die anderen Mädchen aus unserer Klasse, die Lauftreffen, die Konzertreihen im Park, wer zu wessen Geburtstagsparty eingeladen war, und über Sachen, die wir zusammen machen wollten.
Nie über Jungen. Das hätte Lena nie getan. Sie war viel zu vorsichtig.
Bis sich das eines Tages änderte.
An diesen Tag erinnere ich mich ganz genau. Ich war immer noch schockiert wegen der Razzia in der Nacht davor: das Blut und die Gewalt, der Chor aus Schreien und Kreischen. An jenem Morgen hatte ich mein Frühstück wieder erbrochen.
Ich weiß noch genau, wie Lena aussah, als er an die Tür klopfte: vor Entsetzen weit aufgerissene Augen, stocksteif; und wie Alex sie ansah, als sie ihn schließlich ins Lager ließ. Ich erinnere mich auch noch genau daran, was er anhatte, an seine strubbeligen Haare und die Turnschuhe mit den blau gefärbten Schnürsenkeln. Sein rechter Schuh war offen. Er sah es nicht.
Er sah nur Lena.
Ich erinnere mich auch an die Hitze, die mich durchzuckte. Eifersucht.
Ich strecke die Hand nach dem Türknauf aus, hole tief Luft und ziehe. Es ist natürlich abgeschlossen. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe und warum ich so enttäuscht bin. Natürlich ist hier abgeschlossen. Es hat sich bestimmt schon Staub auf den Regalen dahinter angesammelt.
So ist die Vergangenheit. Sie treibt dahin, lässt sich nieder. Wenn man nicht aufpasst, wird man darunter begraben. Das ist mit ein Grund für das Heilmittel: Es räumt gründlich auf; es lässt die Vergangenheit und all ihre Schmerzen weit entfernt erscheinen wie einen kaum wahrnehmbaren Abdruck auf glänzendem Glas.
Aber das Heilmittel wirkt bei jedem anders; und es wirkt nicht bei allen perfekt.
Ich bin entschlossen, Lenas Familie zu helfen. Man hat ihnen ihr Geschäft genommen und sie aus ihrem Haus vertrieben, und zum Teil bin ich dafür verantwortlich. Ich war diejenige, die Lena ermutigt hat, zu ihrer ersten illegalen Party
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