Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Asphalt ist fast ganz verschwunden und zwei Straßenlaternen ohne Glühbirnen ragen aus dem Boden. Neben einer von ihnen sind Tack und Raven stehen geblieben.
Julian stellt sich auf die Zehenspitzen. »Ich glaube … ich glaube, wir sind da.« Noch bevor er den Satz beendet hat, dränge ich mich durch die Leute, um einen Blick auf Waterbury zu erhaschen.
Am Rand des alten Parkplatzes hört der Boden plötzlich auf und fällt steil ab. Eine Reihe Serpentinenpfade führen den Abhang hinunter zu einem kargen, baumlosen Stück Land.
Das Lager ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Ich habe mir richtige Häuser vorgestellt oder zumindest feste Konstruktionen eingebettet zwischen Bäumen. Das hier dagegen ist nichts weiter als ein riesiger überfüllter Platz, ein Patchworkmuster aus Decken, Müll sowie Hunderten und Aberhunderten Menschen. Das Lager erstreckt sich fast bis ganz an die Stadtmauer, die im verlöschenden Licht rot glüht. Da und dort brennen Feuer auf dem weitläufigen, dunklen Areal und blinken wie Lichter einer entfernten Stadt. Der Himmel, der am Horizont farbig leuchtet, erstreckt sich überall sonst dunkel und dicht über den Platz wie der fest verschlossene Metalldeckel auf einer Mülltonne.
Einen Moment muss ich an die verkrümmten Leute denken, die Julian und ich auf der Flucht vor den Schmarotzern unter der Erde getroffen haben, und an ihre dreckige, verrauchte unterirdische Welt.
Ich habe noch nie so viele Invaliden gesehen. Ich habe überhaupt noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen.
Sogar von hier aus können wir sie riechen.
Meine Brust fühlt sich an, als klaffte darin ein Loch.
»Was ist das hier?«, murmelt Julian. Ich würde ihm gern etwas Tröstliches sagen – ich würde ihm gern sagen, dass alles gut wird –, aber ich habe das Gefühl niedergedrückt zu werden, bin benommen vor Enttäuschung.
»Das soll es sein?« Dani ist diejenige, die ausspricht, was wir vermutlich alle denken. »Das ist der große Traum? Die neue Ordnung?«
»Wenigstens haben wir hier Freunde«, sagt Hunter leise. Aber noch nicht mal er kann den positiven Schein aufrechterhalten. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare, so dass sie in alle Richtungen abstehen. Sein Gesicht ist bleich; den ganzen Tag über hat er beim Gehen gehustet, sein Atem war feucht und abgehackt. »Und abgesehen davon hatten wir gar keine andere Wahl.«
»Wir hätten nach Kanada gehen können, wie Gordo vorgeschlagen hat.«
»Ohne unsere Vorräte hätten wir es nie bis dahin geschafft«, entgegnet Hunter.
»Wenn wir gleich nach Norden gegangen wären, hätten wir unsere Vorräte noch«, gibt Dani zurück.
»Tja, das haben wir aber nicht getan. Jetzt sind wir hier. Und ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich hab einen höllischen Durst.« Alex drängt sich durch die Reihe. Er muss den Abhang bis zum ersten Serpentinenpfad seitlich hinabsteigen und rutscht leicht auf dem steilen Gefälle, wodurch ein Regen aus Kieselsteinen in Richtung Lager niedergeht.
Als er den Pfad erreicht hat, bleibt er stehen und sieht zu uns hoch. »Und? Kommt ihr jetzt?« Er lässt den Blick über die gesamte Gruppe schweifen. Als er mich ansieht, durchfährt es mich wie ein Stromschlag und ich schaue schnell woandershin. Den Bruchteil einer Sekunde lang hat er fast wieder wie mein Alex von früher ausgesehen.
Raven und Tack setzen sich gemeinsam in Bewegung. In einem hat Alex Recht – wir haben jetzt keine andere Wahl. Wir halten nicht noch ein paar Tage in der Wildnis durch, nicht ohne Fallen oder Vorräte oder Kessel, um unser Wasser abzukochen. Der Rest der Gruppe ist sich dessen offenbar ebenfalls bewusst, denn einer nach dem anderen folgt Raven und Tack seitlich den Trampelpfad hinunter. Dani murmelt leise vor sich hin, kommt schließlich jedoch auch mit.
»Los, komm.« Ich greife nach Julians Hand.
Er zuckt zurück. Sein Blick ist auf die weitläufige, verrauchte Ebene und das schäbige Flickwerk aus Decken und provisorischen Zelten unter uns gerichtet. Einen Augenblick glaube ich, er wird sich weigern. Dann durchfährt ihn ein Ruck, als durchbräche er eine unsichtbare Barriere, und er geht vor mir her den Hügel hinab.
Im letzten Moment fällt mir auf, dass Lu immer noch an der Kante steht. Vor den riesigen Nadelbäumen hinter ihr wirkt sie geradezu winzig. Sie blickt nicht auf das Lager hinab, sondern auf die Mauer dahinter: den rot gefärbten Stein, der den Beginn einer neuen Welt markiert. Die Welt der
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