Requiem für eine Sängerin
große Beamtin den Mann festgehalten und ihm dabei Blutergüsse an Armen und Handgelenken zugefügt. Der Mann war mehr als eine Woche krank geschrieben gewesen und drohte als Selbstständiger mit einer Klage wegen entgangener Einkünfte. Mit der Summe, die er forderte, würde er deutlich mehr verdienen als der Assistant Chief Constable!
Die Schilderung aus dem Notizbuch der Polizistin brachte eine gewisse Klärung. Offenbar war der geschädigte Gentleman im Begriff gewesen, seiner Lebensgefährtin «eine Lektion» zu erteilen. Die Polizistin hatte dem Mann ein altmodisches Nudelholz aus der Hand ringen müssen. Sie hatte, mit ihren Worten, «das Minimum an Kraft aufgewendet, das erforderlich war, um die andere anwesende Person, mich selbst und den Hund zu beschützen». Den Hund?
Der Zwischenfall lag noch keine Woche zurück, und Fenwick fragte sich, warum er so ernst genommen wurde. Dann sah er die am Ordner befestigte Notiz: Baxter ist einer von Counsellor Wards regelmäßigen privaten Fahrern . Da hätte ebenso gut «Vorsicht Gefahr!» stehen können. Ward gehörte einer großen Minderheit militanter linker Stadtratsabgeordneter an und hatte beschlossen, seine Minderheitsposition herauszustreichen, indem er bei jeder Gelegenheit die Polizei in die Pflicht nahm.
Fenwick wurde klar, dass er Stunden brauchen würde, um zu ermitteln und sicherzustellen, dass der Papierkram absolut wasserdicht war, bevor er ihn weiterleitete. Und es würde nichts als Zeitverschwendung sein, für die Beamtin und letztlich auch für den Assistant Chief Constable.
Ein Mindestmaß an ausgleichender Gerechtigkeit bot immerhin die Tatsache, dass erst vor kurzem der Bericht eines Tierschutzbeauftragten zu der Akte genommen worden war, den die ermittelnde Beamtin hinzugezogen hatte. Sie hatte sich Sorgen um das Befinden des Hundes in der Küche gemacht und den Tierschutzbeauftragten gebeten, einmal dort vorbeizuschauen. Baxters Lebensgefährtin mochte in den Augen des Gesetzes hinreichend freien Willen haben, die Anklage wegen Tätlichkeit zurückzuziehen und sich der Gnade ihres Partners aufs Neue auszuliefern. Im Falle des Hundes als dummen Tiers machte das Gesetz es glücklicherweise möglich, dass andere in seinem Interesse handelten. Baxter würde wegen Vernachlässigung und Tierquälerei angeklagt werden.
Es war wenig wahrscheinlich, dass Ward sich zu sehr für seinen Fahrer stark machte. Immerhin gab es eine Menge Tierfreunde in Sussex.
Es war schon nach elf, als Fenwick wieder in die zu blauen Augen von Deborah Fearnside sah. Eingehend studierte er Derek Fearnsides Brief, der ihm auf deprimierende Weise bekannt vorkam. Selbst in ländlichen Gegenden waren Fälle mit vermissten Personen relativ häufig. Normalerweise handelte es sich um Teenager mit Problemen, deprimierte Ehefrauen oder geistig verwirrte Ehemänner, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkamen. Und für gewöhnlich tauchte die vermisste Person binnen weniger Tage übermüdet und pflegebedürftig wieder auf und war dankbar für die Zuneigung, mit der sie empfangen wurde. Nur wenige sah man niemals wieder, außer auf vergilbenden Fotos in Vermisstenanzeigen oder im Fernsehen.
Mr. Fearnside konnte nicht verstehen, warum das Verschwinden seiner Frau vor mittlerweile fast vier Wochen nicht von der Polizei untersucht wurde. Als Antwort auf seine anfänglichen Fragen hatte er einen Formbrief geschickt bekommen, in dem man ihm erklärte, dass im Falle des Verschwindens erwachsener Personen für gewöhnlich nur dann Ermittlungen eingeleitet wurden, wenn besondere Umstände vorlagen. Sie hatten sogar einige Statistiken erwähnt, die belegten, weshalb es normalerweise unnötig war zu ermitteln – um den ängstlichen Mann zu beruhigen und mundtot zu machen. Es hatte nicht funktioniert.
Mr. Fearnside hatte jeden Tag angerufen und schließlich geschrieben, dass er eine offizielle Beschwerde in Erwägung ziehe. Er beharrte darauf, dass besondere Umstände vorlägen, dass seine Frau ihn und die Kinder nie einfach verlassen hätte. Und nun lag die Akte auf Fenwicks Beistelltisch und wartete darauf, dass er über das weitere Vorgehen entschied. Im Geiste entwarf er bereits eine höfliche, aber abschließende Antwort.
Doch als er weiterlas, verwarf er sein halb formuliertes Antwortschreiben. Er stellte fest, dass er dem Mann Recht gab und nicht den Kollegen. Fearnside hatte sogar eine Liste der «besonderen Umstände» zusammengestellt:
Sie hatte eine Nachricht für die
Weitere Kostenlose Bücher