Requiem für eine Sängerin
sagen würde.
«Bess ist noch keine sechs Jahre alt, Andrew. Es ist durch und durch unfair, sich auf sie zu verlassen. Wir brauchen die Hilfe eines Fachmanns. Mit deiner Starrköpfigkeit bist du uns allen gegenüber unfair, mich eingeschlossen, und Christopher trifft es ganz besonders.»
«Darüber können wir jetzt nicht in aller Breite diskutieren. Dann geh eben morgen mit ihm zum Arzt und frag den, was er meint; danach können wir uns unterhalten.» Er räusperte sich, um eine Spur Autorität zurückzuerlangen. «Ich würde jetzt gern ein Wort mit Chris sprechen.»
«Mal sehen, ob er ans Telefon kommt. Wann wirst du übrigens zu Hause sein?»
«Weiß ich noch nicht genau. Wenn ich mir den Stapel hier so ansehe, könnte es noch eine Stunde dauern.»
«Ruf mich an, bevor du losfährst, damit ich dir dein Essen aufwärmen kann.» Das gedämpfte Klicken am anderen Ende verriet ihm, dass sie den Hörer weggelegt hatte, ohne dass er sich hatte bedanken können. Erstaunlich, wie sie moralisch immer die Oberhand behielt. Sie konnte einem wirklich den letzten Nerv rauben, aber ohne sie hätte er die Kinder nicht behalten können.
Fenwick betrachtete die Anschlagtafel an der gegenüber liegenden Wand. Das dunkelbraune Material war seltsam leer – keine Spur des üblichen Durcheinanders von Fotos, Karten und Notizen für aktuelle Fälle. Ich habe keine offenen Fälle, dachte er niedergeschlagen. Keine Fälle, Karriere im Arsch. Das handelte man sich mit einem ausgedehnten Sonderurlaub ein. Finster starrte er den Stapel auf seinem Schreibtisch an.
In einer dieser Akten schlummerte vielleicht eine Gelegenheit, seinen guten Ruf wiederherzustellen. Er wartete am Telefon und quälte sich mit Erinnerungen an die vergangenen sechs Monate. Wie hatte er die Anzeichen übersehen können, zuerst bei Monique und dann bei Christopher? Noch immer verfluchte er sich dafür, dass er für den konstanten Verfall seiner Frau so blind gewesen war. Wäre er aufmerksamer gewesen – und häufiger zu Hause –, hätte er vielleicht etwas gemerkt und sie hätten etwas unternehmen können. Er war Polizist, verdammt; es war sein Job, Dinge aufzuspüren, Hinweise zu erkennen, aus den Puzzleteilen der Indizien ein vollständiges Bild zusammenzusetzen. Und beim wichtigsten Fall von allen – der Gesundheit seiner Frau – hatte er versagt.
Der Arzt und seine Freunde hatten natürlich versucht, ihn zu trösten, als die Prognose bestätigt wurde. Sie sagten, es hätte nichts mehr getan werden können, so gut hatte sie alles verheimlicht. Eine Zeit lang hatte sie alle hinters Licht geführt, aber die Natur konnte sie nicht täuschen. Nun war es zu spät, und er sah sich, was seinen Sohn anbelangte, einem wachsenden Dilemma ausgesetzt. Erneut drohte ihn das Gefühl der Hilflosigkeit zu übermannen.
Er hatte sich geschworen, dass er nie wieder seine Arbeit einen Keil zwischen sich und seine Familie treiben lassen würde. Nun arbeitete er den ersten Tag wieder und stand bereits vor neuen Entscheidungen. Während er dem Rauschen in der Leitung lauschte, schwor er sich erneut, dass er es nie wieder so weit kommen lassen würde. Wenn Christopher ihn brauchte, dann musste er da sein.
Am anderen Ende der Leitung tat sich etwas.
«Hallo, Chris, hier ist Daddy. Wie geht es dir? Was macht dein Kopf?»
Schweigen.
«Wie ich von Bess gehört habe, hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen.»
Nichts. Aggressives Schweigen schlug ihm entgegen.
«Also, die gute Neuigkeit ist, Oma und ich haben uns geeinigt, dass du morgen nicht in die Schule zu gehen brauchst. Das ist doch gut, oder?»
Gleichgültiges Rauschen.
«Chris? Chris, hör zu, ich weiß, dass du da bist. Rede mit mir, erzähl mir etwas – zum Beispiel, was du heute gemacht hast. Okay?»
«Wolken. Wolken, Wolken und nochmals Wolken. Die habe ich heute gesehen.» Die Stimme des Jungen klang verzerrt, gepresst, leblos. Fenwick musste einen dicken Kloß hinunterschlucken.
«Ich verstehe. Waren es hübsche Wolken, Chris? Waren sie freundlich?»
«Es sind meine Wolken. Ich hab sie mit nach Hause gebracht.»
«Wo bewahrst du die Wolken auf, Chris? Was hält Oma von ihnen?»
«Die kann sie nicht sehen. Bin nicht sicher, ob du es könntest. Es sind meine Wolken. Bess sieht sie.»
«Welche Farben haben sie? Sind sie hübsch, wie bei Sonnenuntergang?» Er wollte seinen Sohn einfach nur in der Leitung halten.
«Es sind meine Wolken. Wenn ich nicht hinschaue, verschwinden sie.»
Der Kloß in
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