Requiem für eine Sängerin
leeres weißes Oval mit schwarzen Löchern statt Augen und einer klaffenden Öffnung als Mund. Als sie neben ihm stand, hörte sie das Würgen tief in seinem Hals – als versuche er, etwas zu sagen oder zu schreien, verschlucke sich aber an seiner eigenen Zunge. Sein Atem roch schlecht.
«Ron, was ist denn? Um Himmels willen, sag es mir! Ist dir schlecht?»
Als wäre das sein Stichwort gewesen, blies Ron die Wangen auf und fing an zu würgen. Es gelang ihm gerade noch, nach draußen zu springen, ehe er seinen Mageninhalt von sich gab und eine unglaubliche Schweinerei anrichtete.
Melanie drehte sich um und sah in den dunklen Umkleideraum. Ihr erster Gedanke war, dass jemand, wahrscheinlich die Judoka, verdammten Ärger bekommen würden, weil sie so ein Chaos hinterlassen hatten. Ein Bündel Kleidungsstücke lag auf dem Boden, und irgendein Idiot hatte die ganzen Wände mit Farbe beschmiert. Dann bemerkte sie den Geruch und die Hand auf dem Kleiderbündel. Unwillkürlich ging sie näher hin. Der ekelhaft süßliche Geruch, vermischt mit vagen Dünsten wie aus dem Chemielabor an einem besonders schlimmen Tag, stieg ihr in die Nase. Sie spürte einen metallischen Geschmack in der Kehle, der sie an Nasenbluten erinnerte, aber ihr benommenes Gehirn weigerte sich hartnäckig, eins und eins zusammenzuzählen. Erst als sie das Gesicht und die grässliche klaffende Wunde sah, ging ihr auf, was hier passiert sein musste.
«Miss Johnstone? Miss Johnstone? O Gott, neiiiiin!» Ihre Worte wurden zu einem unartikulierten Schrei. Sie rannte wie von Sinnen auf das Schulgebäude zu, doch dann blieb sie stehen, weil ihr klar wurde, dass dort niemand sein würde. Der Hausmeister fiel ihr ein, der seine Kammer beim Heizraum hatte, und sie machte sich auf die Suche nach ihm. Sie sah das Licht im Regen und warf sich gegen die Tür.
«Mr. Yardell, Mr. Yardell. Rufen Sie die Polizei – schnell, es hat einen Unfall gegeben, einen schrecklichen Unfall. Ich glaube, Miss Johnstone ist tot.»
Zehn Minuten später erschienen zwei Polizeiautos und ein Krankenwagen auf der Bildfläche. Der Hausmeister nahm sie totenblass in Empfang; er zeigte nur auf den Musiktrakt, trat beiseite und ließ erleichtert die Behörden übernehmen.
Die Leute von der Spurensicherung trafen wenig später ein. In weißen Anzügen mit Kapuzen, Überschuhen und Handschuhen begannen sie eine minutiöse Durchsuchung des Gebäudes und des umliegenden Geländes. Eine Polizistin kümmerte sich um Melanie.
Fenwick zog gerade seinen Regenmantel an, als er den Anruf bekam. Obwohl er ins Revier zurückgekehrt war, hatte ihn in jüngster Zeit nichts Interessantes beschäftigt, daher hatte er sich angewöhnt, so zeitig zu gehen, dass er den Kindern noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen konnte. Er war schon etwas später dran als gewöhnlich, blieb aber dennoch und ging ans Telefon. Der Constable von Harlden hatte einen Notruf entgegengenommen und um 18.45 Uhr einen mysteriösen Todesfall gemeldet. Fenwick sah auf die Uhr, befahl dem Dienst habenden Sergeant, dafür zu sorgen, dass Cooper ebenfalls zur Schule kam, und rief zu Hause an, um sich zu entschuldigen.
Um diese Tageszeit brauchte man nur fünfzehn Minuten. Er fuhr schnell und umsichtig und schaffte es, den Verkehr ohne Einsatz des Blaulichts zu meistern. Die altbekannte Mischung aus Neugier, Wut und, ja, Aufregung machte sich bemerkbar, schärfte sein Denken und versetzte ihn in einen Zustand der Wachsamkeit.
Als er eintraf, war das Gelände bereits vom Tor des Parkplatzes bis zu dem separaten Musiktrakt mit blau-weißem Band gesichert worden. Eine weiße Plastikplane erstreckte sich von der Tür bis zu den Büschen. Der emsigen Geschäftigkeit war zu entnehmen, dass die Leute von der Spurensicherung schon bei der Arbeit waren. Sie hatten schnell gehandelt, was Fenwick mit Optimismus erfüllte, als er sein Auto parkte und durch den Regen auf den uniformierten Constable an der Tür zueilte.
«’n Abend, Constable. Haben Sie den Anruf entgegengenommen?»
«Ja, Sir.» Constable Nolan erkannte Fenwick und freute sich über die Gelegenheit, eine Legende des Reviers beeindrucken zu können. «Ich traf um achtzehn Uhr dreiundvierzig ein, nachdem ich durch einen Notruf des Hausmeisters, Mr. Yardell, informiert worden war. Er wartete auf dem Parkplatz auf mich und führte mich gleich hierher. Ich fand eine Frau, eindeutig tot, und informierte sofort das Revier. Die Mordkommission traf vor einer Weile ein, der
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