Requiem: Roman (German Edition)
hergebracht, um seine Kleider trocken zu kriegen. Das ist alles.«
»Mehr ist da nicht?«
»Absolut!«
»Ich will, dass man mir solche Sachen berichtet.«
»Verstanden, Sir.«
McCrink verließ das Restaurant und ging durch die Stadt. Arktische Luft überquerte das Land, es war eine frostkalte Nacht. »Luft aus Sibirien«, hatte Margaret am Vorabend von Roberts Verhaftung gemeint. Tiefdrucksysteme, die sich von der Steppe, von Gebieten mit Permafrost, langsam auf sie zubewegten. In der ganzen Stadt war es eiskalt. In den Leitungen gefror das Wasser. Der Kanal war mit Eis bedeckt. Das Wasser im Hafenbecken wurde milchig. Am Dock streuten Arbeiter Sand und Salz auf die Straße.
Im Lager der Zigeuner brannten träge Feuer. McCrink sah dunkle Umrisse vor den Flammen, die sich unruhig hin und her bewegten. Manchmal blieb jemand stehen und schien in Richtung der Stadt zu sehen, andere taten das Gleiche, Gruppen, reglos in der Dunkelheit, notleidende Standbilder.
Man hatte McCrink Büroräume in der größeren Wache an der Belfast Road angeboten, aber er hatte sich entschieden, am Corry Square im Stadtzentrum zu bleiben. Über dem Platz, von roten Ziegelmauern eingefasst, hing die Ahnung von wirtschaftlichem Niedergang. Zwischen den Schwellen der Bahnlinie auf der anderen Straßenseite wuchs Unkraut. Auf dem Hügel über der Kaserne befand sich ein Frauenkloster; auf der anderen Seite der Stadt war die Abbey, die Abtei, ebenfalls auf einer Anhöhe. Die Hügelflanken hatten etwas Schauerliches an sich. Der Kanal war keine hundert Meter entfernt. Hinter den Häusern am Corry Square standen bis zum Fluss hinunter aus Stein gebaute Lagerschuppen. Sie wurden nicht mehr verwendet, um Güter zu lagern, die per Bahn oder auf dem Kanal transportiert wurden, sondern sie beherbergten jetzt kleine Autowerkstätten und Handwerker.
Er ging an dem diensthabenden Beamten vorbei zum Einsatzraum und blieb im Türrahmen stehen.
Da war Pearls Tod, und hier war ihre Geschichte, ihre Epistel und zugleich die von Roberts Schuld oder Unschuld. Die Zeugenaussagen. Die stockenden Berichte. Das Geklapper der Remington-Maschinen war verstummt. Es herrschte ein Durcheinander aus verstreuten DIN-A 4-Seiten. Abschriften, über denen gebrütet wurde. Jede einzelne von einem Zeugen. Jede einzelne konzentriert auf ihre eigene Fabel, Gegenstand von Erfindung, die zu weit ging. Wie Spione, die in der Nacht herumschlichen und denen nicht zu trauen war.
McCrink nahm die Akte mit den Fotos vom Tatort mit in sein Büro und breitete sie auf dem Tisch aus. Die Fundorte von Pearls Kleidern waren nummeriert und aufgelistet, ihr zusammengekrümmter Körper war gerade noch zu erkennen an der Stelle, an die er geschleppt und teilweise hinter den Felsen versteckt worden war. Er ließ die Augen über die Liste nach unten wandern. Ein hautfarbener Strumpf, zerrissen, voller Laufmaschen. Ein weißes Höschen der Marke Ladybird, verschmutzt. Weißer Büstenhalter, Haken zerbrochen. Die einzelnen Kleidungsstücke, die Intimwäsche, wie sie auch genannt wurde, vermessen und in einer Liste aufgenommen.
Geschlagen. Gewürgt. Erstochen.
McCrink wurde das Gefühl nicht los, dass der Mord an Pearl Gamble einiges gemein hatte mit den Morden an den Nackten, bei denen er in London ermittelt hatte. Die Morde wirkten durchgeplant, als folgten sie einem Drehbuch, als flüsterten sie dem Publikum etwas zu. Bei den Londoner Nackt-Morden waren alle Mädchen ausgezogen und erwürgt worden. In allen Fällen waren die Leichen zwei Tage lang irgendwo aufbewahrt worden, bevor man sich ihrer entledigt hatte. Auf dieses Detail kamen die Ermittler immer wieder zurück. Warum behielt man eine Leiche für achtundvierzig Stunden? Sie suchten den Rat von Psychologen und Kriminologen, die aber unfähig waren, eine Erklärung dafür zu liefern. McCrink bekam die Aufgabe, alte Akten durchzugehen, um festzustellen, ob es in der Vergangenheit ähnliche Verbrechen gegeben hatte. Er bekam ein Büro im Hauptquartier in Chiswick. Er verbrachte ganze Tage allein mit den Akten, arbeitete sich durch Fotostrecken. Zuletzt gesehen, als sie in einen blauen Ford Perfect einstieg. Die Leben der Opfer schienen von ihren letzten Sekunden an wie verblassende Kondensstreifen zu verschwinden.
Er arbeitete sich wochenlang durch eng getippte DIN-A4-Seiten. Tatorte. Autopsien. Text.
Er las sich die Namen der Opfer laut vor. Elizabeth Figg, auch bekannt als Ann Phillips. Gwynneth Rees, auch bekannt als Tina Smart.
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