Requiem: Roman (German Edition)
die Leiche der Familie vorenthalten wurde. Einer der Wärter erzählte ihm, man schütte im Grab ungelöschten Kalk über die Leiche, um sicherzustellen, dass sie vom Erdboden verschwand. Wenn er die Augen schloss, konnte er die weiß glühende Leiche in der dunklen Erde sehen.
»Der Gefängnisarzt sieht aus wie ein Nazi auf der Flucht«, erzählte er Mervyn während der Besuchszeit.
Er fand, der Arzt sehe aus wie Josef Mengele. Robert hatte von den Nazis gelesen, die aus Deutschland verschwunden waren.
»Südamerika. Chile und solche Länder. Das sind die Orte, an denen du Nazis findest«, sagte Mervyn, »mit Panamahüten im Dschungel.«
Robert war nicht überzeugt. Er behielt den Arzt im Auge, wenn er sich durch sein Sprechzimmer bewegte. Robert fand, er sah böse aus. Als führe er abscheuliche Experimente durch.
Mervyn interessierte sich dafür, wie es im Gefängnis zuging, interessierte sich für die vorgeschriebenen Essenszeiten und das geräuschvolle Mampfen, für die Männer, die wie eine Prozession durch den Innenhof zogen.
»Ich verhalt mich einfach ruhig und sitze meine Zeit ab. Die Schließer sind nicht allzu schlimm.«
Robert ließ den Gefängnisjargon zwischen ihnen stehen. Er wusste, dass das im Fall von Mervyn verschenkt war. Er war nicht fähig, sich im Gefängnislärm zu konzentrieren, in dem Geklirr der Eisentüren, dem Gerassel der Schlüssel, den erhobenen Stimmen, dem ganzen anstrengenden Klamauk des Knastlebens. Eisen und Stein. Robert wusste, dass Will die Geheimsprache des Gefängnisses geschätzt hätte. Sträflinge. Knackis. Er wartete darauf, dass Will ihn besuchte, doch er tauchte nicht auf. Mervyn, verschlossen und mit weißem Gesicht, war der Einzige, den er hatte.
Er bekam jeden Tag neue juristische Unterlagen ausgehändigt, und die Geschichte seines Lebens eröffnete sich ihm in neuen Dimensionen. Robert kam sich vor, als habe er Zugang zu gänzlich neuen Sprachen. Sein Anwalt brachte ihm eidesstattliche Erklärungen und Gerichtsurkunden, die er auf dem blanken Gefängnistisch ausbreitete. Man konnte sich vorstellen, sie seien auf altertümlichem Material niedergeschrieben worden, Pergament und Vellum, aufgezeichnete Weisheit von Jahrhunderten. Robert liebte den Klang der lateinischen Ausdrücke in seinem Mund. Habeas corpus. Er hätte sich nie gedacht, dass die dürren Ereignisse jener Nacht auf diese Weise nacherzählt werden könnten. So etwas konnte man nur in böser Absicht tun. Er las bis spät in die Nacht in den Unterlagen. Die Wärter, die durch den Spion ein Auge auf ihn hatten, fanden ihn vor wie einen Gelehrten, über die Papiere gebeugt.
*
Nach einer Eingewöhnungszeit in einer Einzelzelle wurde Robert in eine Zelle mit einem jungen Gefangenen namens Hughes verlegt. Hughes war Lehrling in der Druckerei des Belfast Telegraph gewesen. Er war dünn, hatte Tätowierungen an beiden Armen und eine mit Tinte eingestochene Träne unter dem rechten Auge. Er hatte versucht, Buchstaben auf seine Finger und die Handrücken zu tätowieren, doch die Tinte war unter der Haut zerlaufen, weshalb seine Hände aussahen, als habe er versucht, sich in einer vergessenen Sprache auszudrücken.
»Warum sitzt du?«, fragte Robert.
»Wegen Fummelei«, sagte Hughes.
Der Gefängnispsychiater attestierte Robert durchschnittliche Intelligenz. Gegen seine Mutter schien er Feindseligkeit zu hegen. Er wurde als überheblich und arrogant beschrieben, wobei er damit vielleicht sein geringes Selbstwertgefühl überspielte. Er war anfällig für überbordende Fantasie, für urplötzliche Ambitionen, Weltmeister im Bodybuilding zu werden. Er redete auch über einen angeblichen Anwerbungsversuch des russischen Geheimdienstes während seiner Zeit in London. Robert besaß ein rudimentäres Wissen über Psychiatrie, das er sich aus Büchern aus der Bibliothek angelesen hatte, und hatte die Angewohnheit, unvermittelt medizinische Ausdrücke zu verwenden. Er befragte den Psychiater nach Blackouts als Resultat von Schlägen gegen den Kopf. Er redete über Aneurysma und versuchte, den Psychiater in ein Gespräch über Schizophrenie zu verwickeln, und über eingebildete Stimmen, die einem befahlen, falsche Dinge zu machen. Obwohl emotionale Unreife festgestellt wurde, erklärte man Robert für verhandlungsfähig. Ein mildes Antidepressivum wurde verschrieben.
*
Agnes hatte erwartet, dass man der Mutter eines Kriminellen aus dem Weg ging, aber das war nicht der Fall. Natürlich gab es gewisse Frauen in
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