Requiem
Franks Mobiltelefon in der Mittelkonsole ihres Autos entdeckt hatte. Das Display zeigte 17 verpasste Anrufe an – alle von ihr. Und die Spürhunde hatten zwar seine Fährte aufgenommen, die aufs Volksfest führte, doch da war Schluss. Bei der Vielzahl von Spuren und Gerüchen konnten die Hunde keine Witterung mehr aufnehmen. Auch die Befragung möglicher Zeugen gestaltete sich schwierig, da auf dem Volksfest um 23 Uhr Zapfenstreich war und die meisten Leute schon gegangen waren. Immerhin hatte der Musiker einer Dixielandkapelle ausgesagt, er habe einen Mann bemerkt, dessen Beschreibung auf Beaufort passte und der so gegen halb zehn in Richtung Riesenrad gerannt sei. Er war der letzte Zeuge, der Frank lebend gesehen hatte. Und schließlich hatte das Durchkämmen des ganzen Areals mit einer Hundertschaft Polizisten keinen Erfolg gezeigt. Noch immer suchten Beamte zwischen Kleingartenkolonie und Messegelände, Silberbuck und Luitpoldhain nach ihm. In den fünf Gewässern sollte morgen bei Tageslicht, wenn nötig mit Tauchern, weitergefahndet werden. Dabei war nicht gesagt, ob Frank sich überhaupt noch auf dem Gelände befand, er konnte mittlerweile überall in der Stadt oder noch weiter weg sein. Schließlich hatte Ekki Anne dazu überredet, mit ihm ins Polizeipräsidium am Jakobsplatz zu fahren, wo die Soko mit den verfügbaren Kräften, die sich aus dem beginnenden Wochenende reaktivieren ließen, an der Arbeit war. Unter anderen Bedingungen hätten sie der intime Einblick in die Polizeiarbeit und die professionelle Atmosphäre hier fasziniert, und kaum etwas hätte sie davon abhalten können, eine Reportage darüber zu machen. Jetzt aber wollte sie nur noch ihren Frank zurückhaben. Im Radio sang Diana Krall I miss you so , und Anne rannen still ein paar Tränen die Wange hinunter.
Ekki kehrte mit zwei Plastikbechern brühend heißen Instantkaffees aus dem Automaten zurück, stellte den einen vor Anne mit der Warnung »Vorsicht, heiß!« auf dem Boden ab und setzte sich rittlings auf einen der Holzstühle, den er neben die Journalistin gerückt hatte.
»Wie spät?«, fragte Anne tonlos.
Ertl schaute auf seine Armbanduhr. »Gleich zwei. Willst du dich nicht ein wenig hinlegen? Im Büro nebenan steht ein Sofa.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich könnte ja doch nicht schlafen.«
»Aber dich wenigstens ein bisschen ausstrecken.« Er gähnte herzhaft.
»Gibt es was Neues?«
»Noch keine heiße Spur von Frank, weder auf dem Gelände noch woanders, wenn du das meinst. Aber wenn ich die Arbeit hier drinnen verfolge, habe ich das Gefühl, dass sich die Schlinge um den Täter langsam zuzieht.«
»Wie kommst du darauf?« Anne fasste ihren Becher behutsam mit Daumen und Mittelfinger oben am Rand an und führte ihn zum Mund.
»Sie überprüfen sämtliche Chor- und Orchestermitglieder – die Symphoniker stehen seit ein paar Stunden im Zentrum der Ermittlungen. Doch das ist schwieriger, als du denkst, weil etliche Ausländer darunter sind, und das dauert halt, bis man alle Akten und Papiere beisammen hat. Einigen männlichen Musikern hat die Polizei schon nächtliche Hausbesuche abgestattet. Herausgekommen ist dabei aber meines Wissens noch nichts. Dumm ist nur, dass das Orchester wegen der Aufführung von Verdis Requiem morgen Abend beträchtlich verstärkt worden ist. Das erweitert den Kreis der Verdächtigen noch einmal. Nur etwa ein Fünftel der Musiker und Sänger konnte bis jetzt persönlich nach ihren Alibis befragt werden.«
Anne pustete vorsichtig in den Becher und fabrizierte Rauchzeichen aus aufsteigendem Kaffeedampf. »Und was sagt David Rosenberg dazu? Hat der keinen Verdacht, wer ihm das belastende Material untergejubelt haben könnte?«
»Anscheinend nicht. Er hat sich darüber ja schon den Kopf zermartert, seitdem er festgenommen wurde. Rosenberg glaubt nicht, dass er einen persönlichen Feind unter den Orchestermitgliedern hat, sondern dass er als falscher Verdächtiger herhalten musste, weil er Jude ist. Seinen Autoschlüssel konnte praktisch jeder an sich nehmen, der liegt immer bei seinen Sachen im Aufenthaltsraum. Der Beamte, der ihn befragte, hatte den Eindruck, er scheute sich, jemanden konkret zu beschuldigen, weil er am eigenen Leibe erfahren hat, wie das ist.«
»Aber hier geht es um Leben und Tod«, begehrte Anne auf, »da ist falsche Scham völlig unangebracht.«
»Das weiß er. Natürlich ist er froh, dass er so schnell wieder aus der U-Haft darf, aber er war richtig geschockt, als er
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