Requiem
Tränen? Bestimmt beides. Er hatte wieder diesen Alptraum gehabt. Jetzt träumte er ihn fast jede Nacht. Aber diesmal war es noch schlimmer gewesen. Abermals war er der einzige Lebende unter lauter Toten. Und wieder riefen die mächtigen Posaunen alle Kreatur zum Jüngsten Gericht. Die verwesten Leichen wankten dem gleißenden Licht entgegen. Doch er drehte sich weg, hielt sich verzweifelt die Ohren zu, wollte diesem Ruf nicht folgen. »Dies irae«, brüllte er immer wieder sein Credo und stemmte sich verbissen gegen den Strom der Verblichenen. Da sah er plötzlich seine schöne Schwester auf sich zukommen. Sie trug einen weißen Schleier über ihrem Gesicht, doch er erkannte sie trotzdem, denn sie hatte ihr blaues Lieblingskleid an. Jenes, in dem sie von Heckenschützen in Beirut erschossen worden war. »Mariah«, rief er sie an, doch sie nahm keine Notiz von ihm. Sie folgte einzig dem Dröhnen der Posaunen, das die Erde erzittern ließ, und humpelte an ihm vorbei. Da packte er sie an der Schulter, und im selben Moment gefror sein Arm zu Eis. Einen kurzen Moment lang schob sich der Schleier lautlos beiseite, und er sah in das grauenvolle Antlitz Satans, des gefallenen Erzengels. Rote Augen glühten in der Fratze einer schwarzen Raubkatze. Er schrie auf vor Entsetzen. Seine Glieder waren wie gelähmt, sein Wille betäubt. Dann riss ihn der Strom der Toten mit sich fort …
Sein Pyjama war völlig durchgeschwitzt, das Laken zerwühlt, er spürte die Falten in seinem Rücken. Ächzend wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Der Traum stürzte ihn in tiefe Verwirrung. Drohte Gott ihm mit dem Höllenfürsten, weil er den Plan nicht richtig ausführte? Er hatte doch alles befolgt, was ER ihm befohlen hatte. Es fehlten nur noch zwei Feinde, die würde er auch noch der himmlischen Gerechtigkeit zuführen. Schuld daran war nur dieser Fremde. Warum musste der sich auch einmischen? Von der Polizei war er bestimmt nicht, obwohl er ihn bei den Toten gesehen hatte. Er war Rosenbergs Freund, aber warum jagte er ihn? Der Fremde hatte doch nichts mit der Angelegenheit zu schaffen. Warum durchkreuzte er den Plan? War er womöglich der Sendbote des Antichrists, oder nur ein neugieriger Störenfried? Seine Lage hatte er sich jedenfalls selbst zuzuschreiben. Doch was sollte er mit dem Fremden jetzt machen? Ihn auch töten? Auf alle Fälle musste er für seine Frechheit bezahlen. Und wer sich mit dem Volk der Jesusmörder abgab, brauchte auf Schonung nicht zu hoffen. Was für ein Triumph war es gewesen, den Feind direkt unter ihnen zu bestrafen, während sie oben dem Spiel huldigten. Doch der Fremde hatte ihm fast alles verdorben. Wie sollte es nun weitergehen? Was musste er tun?
Er schlug die Augen wieder auf und tastete im Dunkeln auf seinem Nachttisch nach dem Rosenkranz, doch er konnte ihn nicht finden. Und wenn am Ende gar nicht ER sich ihm offenbart hatte, sondern der Plan ein Blendwerk des Teufels war? Er erstarrte bei dem Gedanken. »Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod an jenem Tage des Schreckens, wo Himmel und Erde wanken, da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten. Zittern befällt mich und Angst, denn die Rechenschaft naht und der drohende Zorn«, kam es stammelnd von seinen Lippen.
*
Der Autokonvoi rollte durch die nächtliche Stadt. Fünf zivile Fahrzeuge und vier Streifenwagen fuhren zügig den Rathenauplatz hinauf und folgten dem Verlauf der Bayreuther Straße stadtauswärts. Kein Auto kam ihnen entgegen, kein Mensch war zu sehen. Als die schwarze Limousine an der Spitze des Konvois den dunklen Stadtpark erreichte, tippte Anne dem Soko-Leiter, der vor ihr auf dem Beifahrersitz saß, auf die Schulter.
»Wir sind fast da. Das Haus kommt schon bald hinter der nächsten großen Kreuzung.«
»Wenn ich mir zuerst unauffällig einen Überblick verschaffen will, was würden Sie dann vorschlagen?«
Anne überlegte kurz. »Ich glaube, ich würde tanken fahren. Dann haben Sie ein paar Minuten, um unbemerkt die Lage zu sondieren.«
Der Soko-Leiter nickte zustimmend. »Gute Idee. So machen wir es.«
Er gab die Anweisung per Sprechfunk durch, dass die Fahrzeugkolonne hinter ihnen zurückbleiben sollte. Der Assistent am Steuer überquerte die Kreuzung, drosselte das Tempo und bog nach knapp 200 Metern rechts in die Aral-Tankstelle ein. An einer der äußeren Zapfsäulen brachte er den Wagen zum Stehen und schaltete den Motor aus. Blaues Licht ließ die müden Gesichter noch fahler aussehen. Während der Fahrer
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