Requiem
Turner auf den Boden fallen. Jetzt folgen 20 Liegestütze. Dann zog er sich aus, duschte und legte frische Kleidung an. Das letzte Tageslicht war vollständig verloschen. Es war Zeit loszufahren. Der Plan duldete keinen Aufschub mehr. Das Dunkel der Nacht würde ihn schützen. Er nahm den Rucksack vom Stuhl, den er vorbereitet hatte. Dann löschte er das Licht und zog die Tür hinter sich zu.
»Herr, erbarme Dich unser; Christus, erbarme Dich unser; Herr, erbarme Dich unser.«
Quid sum miser tunc dicturus?
Weh! Was werd ich Armer sagen?
5. Kapitel: Mittwoch, 24. April
»Hier kommt der Kaffee-Express!«
Anne stellte das Tablett aus der Kantine auf der einzigen freien Fläche im Nachrichtenbüro ab. Katja Becker, die heute stündlich die Regionalnachrichten moderierte, hatte zwei der drei Schreibtische annektiert und vollständig mit Agenturmeldungen bedeckt. Auch auf dem Boden lagen bedruckte Zettel.
»Genau das, was ich jetzt brauche«, gähnte Katja und schnappte sich einen Becher Milchkaffee, »ich bin ja immerhin schon seit fünf Uhr da.«
Am dritten Schreibtisch saß Bernd C. Müller vor dem Computer und schrieb Polizeimeldungen um. Justizprosa in Radiodeutsch bringen, nannte er das, damit die Hörer es leichter verstanden. Schließlich konnten sie nicht wie die Zeitungsleser noch mal zurückblättern, wenn sie etwas nicht mitbekommen hatten. Ihm reichte Anne den bestellten Cappuccino. Dann ging sie nach nebenan und stellte Ina Pröls, die mal wieder telefonierte und ihr ein zuckersüßes Lächeln zuwarf, den doppelten Espresso auf den Tisch. Zurück im Nachrichtenbüro, das einige in der Redaktion auch Newsroom nannten, weil das in ihren Ohren schicker und wichtiger klang, setzte sie sich auf einen Papierkorb, nahm einen Schluck Milchkaffee, biss in ihre Salamisemmel und schüttelte über Katjas Chaos den Kopf. Man könnte Anne 50 verschiedene Schreibtische zeigen, sie würde immer zweifelsfrei den benennen können, an dem ihre Freundin arbeitete. Vielleicht sollte sie sich damit mal bei Wetten, dass bewerben.
»Du, Katja«, kaute sie, »hast du grade Zeit? Du bist doch unser Kompetenzzentrum für Rechtsradikalismus, und ich müsste da mal was von dir wissen.«
Sie schielte gierig auf Annes belegtes Brötchen. »Du kannst mich alles fragen, Herzchen, wenn du mich mal beißen lässt.«
Anne hielt ihr die Semmel hin und sie stieß ihre Zähne herzhaft hinein.
»Ich bin doch immer noch an der Geschichte mit dem ermordeten Neonazi dran …«
»Einer weniger«, unterbrach ihre Freundin sie. »Ich hoffe da ja auf den Werther-Effekt.«
Bernd prustete hinter seinem Computer los. Auch Anne fand den literarischen Vergleich ganz witzig, war aber über die Härte der Aussage erstaunt. Einen Hang zum Zynismus hatten sie als Journalisten fast alle, aber das war doch eine ganz schön radikale Einstellung.
»Du fändest es gut, wenn noch mehr Rechtsextreme umgebracht würden?«
»Oder Selbstmord begehen wie Goethes Werther. Ja. Nur ein toter Neonazi ist ein guter Neonazi.« Katja verschränkte die Arme über der Brust, schob die Unterlippe vor und pustete sich eine blonde Ponysträhne aus dem Gesicht.
»Du meinst es ja wirklich ernst.« Anne schüttelte den Kopf. So kannte sie ihre Freundin gar nicht. »Das ist aber eine ziemlich militante Haltung.”
»Ich bin nicht die Einzige, die so denkt. Und wir haben auch allen Grund dazu. Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, wenn dich die Faschos auf die schwarze Liste setzen, nur weil du mal was gegen sie gesagt oder geschrieben hast. Ich habe seitdem eine Scheißangst. Ich habe Angst, wenn ich in meine Tiefgarage gehe, ich habe Angst, wenn ich hier morgens beim Frühdienst die Erste bin. Ich habe Angst, wenn ich allein zu bescheuerten Abendterminen fahren muss …«
Katja hatte mit immer brüchigerer Stimme gesprochen. Anne stand auf und legte ihr den Arm um die Schulter. Bernd, ungewohnt pietätvoll, reichte ihr ein Papiertaschentuch hinüber.
»Hey, ist es so schlimm? Du hast mir nie gesagt, wie fertig dich das macht.«
»Es ist noch viel schlimmer. Aber ich lass’ mich von denen nicht unterkriegen.« Katja putzte sich geräuschvoll die Nase. »Hast du eine Ahnung, wie viele rechtsextremistische Gewalttaten es in Deutschland allein im vergangenen Jahr gab? Über 14 000. In den letzten Jahren ist die Kurve steil angestiegen.«
»Aber da wird doch auch jedes kleine Hakenkreuz mitgezählt, das dumme Kinder aus Langeweile in Bushaltestellen ritzen«,
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