Requiem
Nürnberg?«
Beaufort sah sich suchend um. »Najaa, Meer gib’s hier ja keins«, sagte er und fügte nach einer Pause hinzu: »Aaber Beerge nu eigentlich auch nich.«
Das war zu viel für Anne. Sie hielt sich ihr Taschentuch vor den Mund, presste ein »Ich schau mir schon mal die Graffiti an« durch ihre Zähne und rannte zum Eingang. Die beiden Männer schauten ihr nach und sahen, wie der Rücken der Journalistin krampfartig zuckte.
»Frau Kamlin, geht es Ihnen nicht gut?«, rief Hubertus besorgt.
»Daa machen Sie sich man keine Soorgen«, sagte Beaufort seelenruhig, »bes-timmt sind daa die Pollen an Schuld – Heuschnupfen!«
Nachdem Anne sich von ihrem ›allergischen Schub‹ erholt hatte, zeigte der Messesprecher den beiden die Schmierereien im Eingangsbereich. Auf den Pfeilern, an den Glasscheiben, sogar auf den Treppenstufen prangten schwarze Hakenkreuze in verschiedenen Größen. Auch einzelne Parolen waren aufgesprayt worden: »Nationaler Widerstand«, »Ausländer raus«, »Stoppt den jüdischen Imperialismus«, las Beaufort. Er fand es bemerkenswert, dass diese angeblichen Bewahrer deutscher Tradition bei »Stoppt« die neue Rechtschreibung verwendeten. Oder waren die Täter zu jung, um noch die alte zu kennen?
Hubertus von Hohenstein war sichtlich empört. »Schauen Sie sich diese Schweinerei nur an! Das geht doch eindeutig gegen unsere internationale Ausrichtung. Wir haben hier Messegäste aus aller Welt, was sollen die nur denken? Für unser Image ist so etwas äußerst unvorteilhaft. Es wäre mir sehr lieb, Frau Kamlin, wenn Sie das hier nicht zu sehr aufbauschen würden.«
»Ihre internationalen Gäste und Aussteller werden es wohl kaum mitbekommen, wenn wir in den Regionalnachrichten darüber berichten«, tröstete Anne. »Und die Spielwarenmesse ist doch schon vorbei.«
»Aber am 1. Mai beginnt die Bio-Fach. Das ist immerhin die Welt-Leitmesse für biologische Produkte.«
»Weegen den paar Körnerfressern würd ich mich nich soo aufregen«, schaltete sich Beaufort ein.
»Sagen Sie das nicht, Herr Pagenstecher. Bioprodukte sind ein riesiger Wachstumsmarkt, von organischen Lebensmitteln über biologische Kosmetik bis zu fair gehandelten Naturtextilien. Das Müsli-Image gibt es schon lange nicht mehr, Bio ist heute ein Lifestyle-Phänomen. Wir erwarten hier 3 000 Aussteller und beinahe 50 000 Fachbesucher aus über 100 Nationen. Wir haben die Bio-Fach heuer erstmals vom Februar in den Frühling verlegt – hoffentlich war das kein Fehler.«
»Da haben Sie doch noch eine Woche Zeit, um die Schmierereien beseitigen zu lassen, Herr von Hohenstein. Können wir das Interview vielleicht jetzt gleich führen?«
»Von mir aus gern, Frau Kamlin. Es ist nur kaum noch Zeit, denn in zwei Stunden beginnt die Vorab-PK zur Bio-Fach mit zahlreichen internationalen Journalisten. Wo bleibt denn bloß der Reinigungstrupp?«
In diesem Moment marschierten sechs Männer und Frauen aus dem Eingang, die alle den gleichen roten Kittel einer Gebäudereinigungsfirma anhatten. Der Messesprecher gab ihnen ein paar kurze Instruktionen, dann machten sie sich mit Lösungsmittel, Schwämmen und Muskelkraft an die Arbeit.
»So, ich wäre dann jetzt bereit für Ihre Fragen«, wandte er sich an Anne.
»Vielleicht gehen wir ein kleines Stück beiseite, damit die Putzgeräusche die Aufnahme nicht so stören«, bat sie und zog ihr Gerät aus der Handtasche.
»Frau Kamlin, bei Ihnen ist ja heute alles neu! Erst ihr Auto, jetzt das Mikrofon. Sieht ja schmuck aus, Ihr Aufnahmegerät. So klein und so handlich.«
»Ja, das ist wirklich sehr praktisch. Es wiegt nur noch einen Bruchteil meines Kassettenrekorders. Und schneller ist es auch noch, weil die Aufnahmen digital sind und beim Computer-Schnitt das zeitraubende Kopieren von der Kassette entfällt.«
»Bei Ihnen ist ja heute alles neu, Frau Kamlin«, äffte Beaufort Hubertus aus einigen Metern Entfernung leise nach, während die beiden mit dem Interview beschäftigt waren. Der Messesprecher war ganz schön am Flirten und Anne für seinen Geschmack viel zu entgegenkommend.
Ein großer, muskulöser Mann, der in seinem maßgeschneiderten Anzug wie aus dem Ei gepellt wirkte, stieg zügig die Treppenstufen hoch und erregte Beauforts Interesse. Das solariumsgebräunte Gesicht kam ihm bekannt vor, irgendwo hatte er es schon mal gesehen. Als der Mann die Hakenkreuze bemerkte, die das Reinigungspersonal mehr schlecht als recht wegbekam, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Er
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