Requiem
wandte Bernd ein.
»Das stimmt, aber ein Teil der Szene wird immer radikaler. Es gibt Kameradschaftsgruppen, die sich von der NPD und anderen Rechtsparteien abgespalten haben, weil die ihnen zu zahm sind. Allein in Bayern schätzt man die Zahl der gewaltbereiten Neonazis auf 1 100. Das steht im Verfassungsschutzbericht und dürfte eher unter- als übertrieben sein. Und so einer steht vielleicht mal mit dem Messer in der Hand vor deiner Tür, und du betest, dass er nur deine Reifen aufschlitzt.«
»Scheiße«, sagte Anne.
»Du sagst es. Das ist genau das richtige Wort. Die meisten, die sich gegen die Nazis engagieren, haben Schiss. Egal, ob es der Bürgermeister von Wunsiedel ist, der sich mit seiner ganzen Kleinstadt erfolgreich gegen die Rudolf-Heß-Gedenkmärsche wehrt, oder ob es die Organisatoren des Gräfenberger Bürgerbündnisses sind, die verhindern wollen, dass ihr Kriegerdenkmal jeden Monat aufs Neue zur Pilgerstätte der Rechtsradikalen wird.«
»Ist das mehr so ein Klima der Angst, das die Rechtsextremen schüren, oder gibt es eine wirkliche Bedrohung?«, wollte Anne wissen.
»Anonyme Schmähbriefe, Anrufe mit Morddrohungen, Farbbeutelanschläge auf Haus und Auto. Würdest du das als abstrakte Bedrohung bezeichnen? Also, ich finde das ziemlich konkret.« Sie lachte bitter. »Wenn du an die Opfer der Neonazis denkst, dann fallen dir zuerst wahrscheinlich Solingen, Mölln oder Hoyerswerda ein, und du denkst, es hätte vielleicht ein Dutzend Tote gegeben. Aber es sind viel mehr. Seit 1990 wurden 136 Menschen durch rechte Gewalt umgebracht. Es wird Zeit, dass das Pendel zurückschlägt.«
»Mensch Katja, du machst mir richtig Angst. Glaubst du, dieser Tote auf dem Reichsparteitagsgelände soll ein Fanal sein, und jemand aus der Antifa-Szene hat ihn ermordet?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die so ein Brimborium mit der Leiche veranstalten würden. Wenn ich es getan hätte, würde ich mir so was schenken.«
»Könntest du so einen töten?«, flüsterte Anne.
Katja lächelte schief. »In meiner Phantasie bin ich zu vielem fähig. Aber in der Wirklichkeit? … Ich glaube nicht … Nein. Obwohl, wenn ich dabei wäre, wie so ein Schwein dir etwas antäte, in so einer Situation könnte ich für nichts garantieren.«
Anne schluchzte auf, und dann lagen sich die beiden Frauen heulend in den Armen. Bernd C. Müller, den Emotionsausbrüche dieser Art verstörten, murmelte etwas von »Ich geh’ grad mal zum Fax« und verschwand eilig.
Kurz darauf platzte Ina zur Tür herein und blieb beim Anblick der sich innig umarmenden Kolleginnen abrupt stehen.
»Was’n hier los? Kuschelstunde?«, sagte sie burschikos. »Habt ihr hier jetzt einen Snoezelen-Raum aufgemacht?«
Da lachten die beiden und lösten sich voneinander. Manchmal konnte Ina richtig witzig sein. Doch ihr Blick wanderte hoch zur Wanduhr.
»Ich weiß ja nicht, ob es dir aufgefallen ist, Katja, aber du hast in sechs Minuten Live-Sendung. Alle Nachrichten schon fertig vorbereitet?«
»Äh, fast!«, rief sie und wühlte hektisch in ihrem Blätterwald.
»Und du, Anne, gehst doch heute zum Volksfestplatz, um über den Aufbau des Frühlingsfestes zu berichten, oder?«
»Ab zwölf Uhr habe ich dort meine Interviewtermine.« Anne strich ihren Rock glatt und fragte sich, was Ina jetzt wohl wieder im Schilde führte.
»Dann hast du ja noch zwei Stunden Zeit. SPD lässt fragen, ob du jetzt gleich losfahren kannst. Ganz in der Nähe, am neuen Messebau, soll es antisemitische Schmierereien gegeben haben. Und wenn so etwas auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände passiert, ist das schon ein Thema für uns, meint sie. Besonders jetzt, seit dem Toten dort. Kann ich ihr ausrichten, dass du O-Töne für die Regionalnachrichten mitbringst?«
»Das sage ich ihr lieber selbst«, erwiderte Anne spitz.
Nachdem sie mit ihrer Chefin gesprochen hatte, rief Anne zuerst Beaufort an, dann den Pressesprecher der Messe, brachte schließlich das Geschirr in die Kantine zurück und düste los.
*
Anne parkte ihren Golf mitten auf der Straße vor der neuen Messehalle. Das konnte sie nur tun, weil die von den Nazis erbaute Große Straße ihrem Namen alle Ehre machte. Sie war 60 Meter breit und ursprünglich mal zwei Kilometer lang gewesen und bildete die zentrale Achse des Reichsparteitagsgeländes. Nach Plänen des Architekten Albert Speer sollte auf dieser Straße die Wehrmacht aufmarschieren. Ihr Ziel: das im Süden gelegene Märzfeld, auf dem dann
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