Rescue me - Ganz nah am Abgrund
Auch das Klammerpflaster an seiner Braue war weg. Für einen Moment erlaubte ich mir einen Gedanken an das Fiasko bei Ryan zuhause.
Ty. Nur dieses Wort hatte er gesagt. Wie in meinem Traum. Ty
Wie er mich dabei angesehen hatte. So überrascht. Als sähe er mich zum ersten Mal. Und als Ryan dann die Hand nach mir ausstreckte, mein Haar berührte, meine Wange – war das mehr, als ich hatte aushalten können. Deswegen war ich auch abgehauen, hatte mir die Harley geschnappt und war stundenlang durch die Gegend gefahren.
Wie schön er war. Die zarten, ebenmäßigen, fast schon mädchenhaften Gesichtszüge mit dem doch so energisch wirkenden kleinen Kinn. Die hohen Wangenknochen. Diese langen schwarzen Wimpern, die seine himmelblauen Augen noch strahlender wirken ließen. Wie die funkeln konnten. Hell, wenn er sich freute. Schon fast violett sprühten, wenn er sich ärgerte. Mein Daumen berührte seine halb geöffneten Lippen. Strich über diesen fein geschwungenen Mund. Spürte seinen leisen Atem.
„Ach Ry. Was soll ich bloß mit dir machen?“
Ein merkwürdiges Gefühl beschlich mich, als ich die Hitze spürte, die durch meine Kleidung drang.
Menschliche Wärme. Ryans Wärme.
So nah war mir schon lange keiner mehr gekommen. Seit dem Tag des Unfalls nicht mehr. Da hatte Dad mich kurz an sich gezogen, dann hatten wir um die Schlüssel des Hot Rod gerangelt. Er hatte nicht gewollt, dass ich fuhr. Hatte gemeint, der Rod sei noch nichts für mich.
Zu viele PS.
Aber ich – ich hatte nicht auf ihn gehört. Lachte ihn aus und schwang mich auf den Fahrersitz. Dad hatte nachgegeben – und dafür fuhr ich ihn und seinen besten Freund in den Tod.
Bist kein Mörder.
Nein. Ein Mörder war ich nicht. War nur verantwortlich für den Unfall. Und ein härterer, strengerer Richter als Richter Griffith hätte mich dafür ohne Federlesen in den Bau geschickt. Weil ich leichtsinnig gewesen war. Mein fahrerisches Können überschätzt hatte. Tief in meinem Inneren wusste ich es ganz genau.
Dieses Wissen war es, mit dem ich tagtäglich leben musste.
Wie immer, wenn ich darüber nachdachte, wünschte ich mir, jemand würde den Reset Knopf drücken. Alles zurück auf Anfang. Ich würde Dad einfach den Schlüssel zuwerfen. Wäre vielleicht etwas beleidigt, weil er mir so wenig zutraute. Nein, korrigierte ich mich. Ich wäre sogar ziemlich beleidigt gewesen, schließlich fuhr ich Auto, seit ich übers Lenkrad rüberschauen konnte.
Aber sie wären noch am Leben.
Ich hatte den Gedanken noch nicht ganz beendet, da wurde mir etwas klar. So klar, dass ich für einen Moment die Augen schließen musste.
Nicht Ryan war es, der um Verzeihung bitten musste. Ich war es. Ich würde ihn um Vergebung bitten müssen.
Sechzehn
Ryan schluckte, ließ langsam den Lappen sinken und starrte zu Tyler, der sich weit über den Motorraum beugte. Er war dabei, die gereinigte und überholte Lichtmaschine einzubauen. Von technischen Dingen verstand er etwas, da konnte ihm so schnell keiner etwas vormachen.
Es hatte ihn ziemlich überrascht, als er Tyler heute Morgen schon hier unten vorfand. Stand an der Werkbank und reinigte Vergaser und Lichtmaschine. Als wäre es das Normalste von der Welt.
Als hätte es diesen verzweifelten Ausbruch vor zwei Tagen nicht gegeben.
Ryans Hände suchten den Zeichenblock, er zog ihn leise zu sich heran und begann, mit dem Bleistift eine schnelle Skizze anzufertigen.
Ein paar Striche. Der Wagen. Jetzt Tyler. Die leicht nach vorn gebeugte, gut trainierte Rückenpartie, die kräftigen Oberarme, beides unter dem engen, langarmigen Band-Shirt gut zu sehen. Der lange Pferdeschwanz, der weit über der Schulter hing. Schnell skizzierte er sein Nietenhalsband, die breiten Ledermanschetten um die Handgelenke. Weiter. Er zeichnete die Hüfte, die sich an dem Wagen abstützte, die Rundung seines Hinterteiles in den engen schwarzen Jeans. Ein weiterer Strich, ein langes Bein, etwas nach hinten abgewinkelt, um die Balance zu halten. Als er die Hosentaschen auf Tylers Hintern andeutete, stieg ein kribbeliges Gefühl in ihm auf.
Ryan ließ den Bleistift sinken und starrte auf das gut geformte Original. Es bewegte sich jetzt hin und her. Er konnte den Blick einfach nicht abwenden.
„Verdammte Scheiße hier! Warum passt das nicht?“ Lautes Gefluche ließ ihn zusammenzucken. Tyler sah zu ihm herüber und winkte ihn ran. „Ryan? Komm hilf mir mal.“
„Hm?“ Erschrocken klappte er den Block wieder zu und trat zu
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