Rescue me - Ganz nah am Abgrund
herabkullerte. „Tut mir so leid. Es war ’n Unfall. ’türlich. Hab’s immer gewusst. War bloß so … sauer.“ Der Kopf fiel wieder herab, Ryan hickste leise. „… weg ’n so ’m Köter.“ Einen Augenblick später verrieten leise Schnorchelgeräusche, dass er pennte.
Sekunden vergingen.
Ich saß da, regungslos, war völlig perplex und wusste nicht, ob ich lachen oder ebenfalls heulen sollte. Da ich mich nicht entscheiden konnte, beschloss ich, es auf später zu vertagen.
Nach einer Weile legte ich die Beine hoch auf die Polster und schob Ryans bewegungslosen Körper zurecht. Kinn und Wange an meine Brust geschmiegt, lag er mit angezogenen Beinen zwischen meinen Schenkeln. Wog nicht mehr als eine Feder. Ich versuchte zu ignorieren, dass sein kleines, festes Hinterteil genau in meine Eier drückte, und legte beide Arme um ihn.
Nur, damit er nicht hinunterfiele, redete ich mir ein.
Als Antwort darauf seufzte Ryan schwer. „Ty?“
„Schlaf. Ich bin hier.“ Ich seufzte ebenso schwer.
Was hatte das eben sein sollen? Was wollte Ryan? Absolution? Begnadigung dafür, was er mir angetan hatte, damals auf dem Friedhof?
Du hast sie umgebracht! Du verdammter Mörder!, hatte er geschrien. Impulsive und gedankenlose Worte, die mich an den Rand des Spielfeldes katapultiert hatten.
Denn als sich rumgesprochen hatte, dass Peg und ich jeweils ein Vermögen von meinem Dad, dem großen Flying Lafferty, dem Helden des Rennsports, erbten, da ging das Theater los. Es gab wohl einen Zeugen, der Ryans Anschuldigungen gehört, und der nichts anderes zu tun gehabt hatte, als mit jemandem von der Tageszeitung darüber zu quatschen. Der Skandal war perfekt.
Gierig wie die Geier hatten sich die Reporter auf mich gestürzt. Sensationslüstern, neidisch und gehässig.
Wie lebt es sich damit, zwei Menschen auf dem Gewissen zu haben?
Kannst du nachts ruhig schlafen? Hast du kein schlechtes Gewissen, so viel Geld zu besitzen?
Tag für Tag standen sie vor unserem Haus. Ich konnte keinen Fuß vor die Tür setzen, ohne ein Mikro im Gesicht kleben zu haben.
Aber weil ich kein Interview geben wollte, sogen sie sich eine Story aus den Fingern. Mischten Fakten mit Fake. Die Hexenjagd war eröffnet. Wildfremde Menschen – sogenannte Fans – fielen über mich her. Belagerten die Straße. Forderten Gerechtigkeit, oder was sie dafür hielten.
Dank eines anonymen Hinweises hatte sich sogar die Polizei kurz für diese Geschichte interessiert. Nie würde ich vergessen, wie ich aufs Revier gebracht wurde. Wie sie mich verhört hatten. Immer wieder dieselben Fragen stellten. Stundenlang. Ich schüttelte das Gefühl der Beklemmung ab. Bloß nicht länger darüber nachdenken. Doch so einfach war es nicht.
Du hast sie umgebracht! Zorniger, wütender Ausbruch von Gefühlen.
Und jetzt? Die Kehrtwendung?
Es war ein Unfall. Hab es immer gewusst. Geäußert im Brustton betrunkener Klarheit.
Hoffte Ryan, dass es ausreichte, jetzt alles wieder beim Alten war?
„Glaubst du wirklich“, flüsterte ich und ballte die Faust. „Ein trunkenes ‚Tschuldigung‘ von dir und alles ist wieder gut? Einfach so? Vergeben und vergessen?“
„Und?“, fragte Dad ernst. „Wäre es so schlimm? Alles zu vergeben? Es liegt in der Natur der Menschen, Fehler zu machen. Und wenn jemand seinen Fehler einsieht, sollte man ihm dann nicht verzeihen können?“
„Ich weiß es nicht.“ Hilflos sah ich auf Ryan hinunter. Ohne es zu bemerken, hatte ich angefangen, langsam seinen Rücken zu streicheln. Hinauf und hinunter. So wie bei einem Kind, das man beruhigen wollte.
Wieder bewegte sich Ryan. Drückte sich näher an meine Hand, so verdammt vertrauensvoll. Ich warf den Kopf in den Nacken, die Zähne fest zusammengebissen, weil ich sonst von meinen Gefühlen für ihn überrannt worden wäre.
Ich sollte ihn hassen. Aus ganzer Seele verabscheuen. Doch stattdessen liebte ich ihn. Ich wollte es nicht, auf keinen Fall, versuchte mit aller Macht, dagegen anzugehen. Biss ihn weg, hielt ihn auf Abstand, so weit, wie ich konnte.
Ohne Erfolg, denn Ryan kam immer wieder. Gut, dachte ich mit einem Anflug von Zynismus, er kam immer wieder, weil ich die Werkstatt hatte, die er benötigte.
Wie von selber spielten meine Finger jetzt mit den weichen Locken. Erst mit denen im Nacken, dann mit der einen, die ihm immer in die Augen hing. Ertappte mich dabei, wie ich mit der Fingerspitze über seine weiche Wange streichelte. Von den Blutergüssen war nichts mehr zu sehen.
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