Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burnout (German Edition)
schließlich in der Nähe von Magdeburg auf einem kleinen Hof, der dem Bruder der Mutter gehörte. Dort kamen auch Erwin und sein ebenfalls aus dem Krieg zurückgekehrter Bruder unter. Und Erwin blieb bis an sein Lebensende.
Der junge Mann heiratete eine Frau aus dem nahen Dorf. Sie war Erwins große Liebe, aber einfach war die Sache nicht. Sein Schwiegervater hatte etwas gegen diesen Habenichts, der sein gesamtes Erbe in Form von Haus und Hof in Pommern hatte zurücklassen müssen und nun ein einfacher Arbeiter auf dem Hof seines Onkels war. Akzeptiert hat er Erwin nie – er hat nicht einmal mit ihm geredet.
Mit seiner Frau war Erwin trotzdem glücklich. Sie lebten nicht im Überfluss, aber sie hatten ein gutes Auskommen. Zwei Kinder bekamen sie, ein Mädchen und einen Jungen. Doch dann brach eine lebensbedrohliche Krankheit über dieFamilie herein. Mit nicht einmal 30 Jahren starb Erwins Frau an Leukämie. Erwin stand allein mit den beiden kleinen Kindern da. Nicht einmal bei seinen Schwiegereltern fand der verachtete Schwiegersohn Hilfe oder Unterstützung. Wie sollte er seine Kinder großziehen?
Bekannte, die ebenfalls aus Pommern stammten, hatten eine Idee: Sie brachten Erwin mit Brigitte 2 zusammen. Hatten die beiden nicht ein ähnliches Schicksal erlitten? Brigitte stammte ebenfalls von einem großen Hof in den deutschen Ostgebieten. Sie war gebürtige Schlesierin. Mit neun Jahren war sie von dort vertrieben worden, zusammen mit dem Rest der Familie. Tatsächlich freundeten sich Erwin und Brigitte an, heirateten und bekamen zusammen noch einen Sohn. Sie verstanden sich, aber eines trennte die beiden zeit ihres Lebens: der Umgang mit der verlorenen Heimat.
Auch 40 Jahre später hing im Häuschen von Erwin und Brigitte immer noch ein Bild vom schlesischen Gehöft an der Wand, auf dem Brigitte aufgewachsen war. Fast täglich sprach sie von dem Verlust, den sie als Kind erlitten hatte. Dem Volk der Polen hatte sie das, anders als Erwin, nie verziehen. Das elterliche Gehöft war für sie mehr als die Heimat, ein Zuhause oder die wirtschaftliche Absicherung. Es war Symbol ihrer Zugehörigkeit zu einer besonderen Schicht, dessen Verlust sie nicht verwinden konnte. Sie schien nicht nur vom elterlichen Hof, sondern auch von ihrem Glück vertrieben worden zu sein.
Erwin hingegen sprach immer gut über die Polen, über die Esten und sogar über die Russen, die ihn so viele Jahre gefangen gehalten hatten. Dass er mit manchen von ihnen schlimme Erfahrungen gemacht hatte, war für ihn kein Grund für Hass und Verbitterung. Die Schrecken des Krieges waren für ihn Teil seiner Lebensgeschichte, aber nicht mehr Teil seines Alltags; der Hof seiner Familie war für ihn Vergangenheit; die Ablehnung der Schwiegereltern nicht schön, aber unabänderlich; der viel zu frühe Tod seiner Frau etwas, das sich nun einmal ereignet hatte.
Erwins Augen leuchteten, wenn er über freundschaftliche Begegnungen in der Gefangenschaft erzählte, er machte Witzeauf Russisch; und wenn er davon berichtete, wie er seinen Vater wiedergefunden hatte, waren die traurigen Aspekte und der Tod der Mutter auf der Flucht schnell und ohne Grimm erzählt. Viel mehr Wert legte er auf die Schilderung seines Glücks, den Vater letztlich doch gefunden zu haben.
Auch mit über 80 Jahren konnte Erwin sich freuen wie ein Kind. »Es ist doch, wie es ist«, sagte er immer wieder. Und: »Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten.« Sein Leben, in dem ihn zweifellos immer wieder schwere Schicksalsschläge ereilten, war für ihn in Ordnung. Er haderte nicht damit, und er hatte nicht das Gefühl, dass andere schuld an seinem Unglück seien. Seine zehn Jahre jüngere Frau überlebte er um viele Jahre.
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1 Name geändert
2 Name geändert
Die Frau, die ihre Identität verlor
Ihr Umfeld reagierte irritiert, dass sie so wenig irritiert war. Schließlich gab es doch immer wieder große Zeitungsartikel und auch wissenschaftliche Untersuchungen, denen zufolge Menschen aus dem Takt geraten, wenn sie plötzlich nicht mehr wissen, woher sie eigentlich kommen. Manchmal bringen es Gentests ans Licht, manchmal auch die Offenbarungen von Eltern, die endlich ein Geheimnis teilen wollen: Von einem Tag auf den anderen erfahren Menschen mitunter, dass sie adoptiert wurden, die Folge eines Seitensprungs sind oder mit dem Sperma eines Unbekannten aus einer Samenbank gezeugt wurden. Dann fehlt plötzlich jenes Wissen, über das sich viele Menschen definieren: Wer sind meine
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