Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burnout (German Edition)
war. Zwei Tropfen konzentrierten Zitronensafts träufelten die Psychologin und der Kinderarzt den mehr als 300 Fünf- bis Sechsjährigen auf die Zunge, die an ihrer Studie teilnahmen. Außerdem sollten sich die Kinder sechsstellige Zahlen merken. Sie sollten einem Wildfremden unter vier Augen von ihrer Familie und ihren Freunden erzählen. Und schließlich mussten sie noch einen Film anschauen, in dem ein Junge und ein Mädchen Angst vor Gewitter hatten.
Was das sollte? Auf diese Art wollten Obradovic und Boyce die Resistenz der Kinder gegen alle möglichen Arten von Belastung testen: körperlichen (Zitronensaft), geistigen (Zahlen merken), sozialen (Vieraugengespräch) und emotionalen Stress (Gewitter-Film). Sie bestimmten, wie viel Stresshormon die Kinder jeweils in ihrem Speichel produzierten. Zudem fragten sie die Eltern und Lehrer, wie sie die Sozialkompetenz und das Aggressionspotenzial der Vorschüler einschätzten.
Dabei ergab sich, dass die empfindsamen Kinder aus schwierigen Verhältnissen wie erwartet stärker verhaltensauffällig waren als diejenigen aus ebenso schwierigen Verhältnissen, die während des Stresstests weniger Stresshormon ausschütteten. Aber es zeigte sich auch folgender unerwarteter Zusammenhang: Wuchsen die Sensibelchen in einem liebevollen Elternhaus auf, dann waren sie sogar weniger verhaltensauffällig als die robusteren Kinder aus guten Verhältnissen. Die Empfindsamen zeigten auch mehr Spaß an der Schule und waren sozial besser integriert.
Womöglich also sind Kinder, die empfindlich auf Stress reagieren, einfach insgesamt empfänglicher als ihre weniger stressanfälligen Altersgenossen. Sie reagieren stärker auf Reize aus ihrer Umgebung – auf gute ebenso wie auf schlechte. Das bedeutet aber auch: Wenn sie die Umwelteinflüsse für sich gewinnbringend nutzen, dann können sie umso mehr davon profitieren und ihre weniger gestressten Altersgenossen überflügeln.
Thomas Boyce spricht von »Orchideen-Kindern«, die eingehen, wenn man sich nicht gut um sie kümmert, aber unter guter Pflege prächtige Blüten hervorzaubern. Er hat damit einen im Schwedischen schon lange gebräuchlichen Begriff in die Psychologensprache überführt und auch gleich noch das Pendant dazu mit entlehnt: Im Gegensatz zu Orchideen-Kindern können »Löwenzahn-Kinder« – wie Unkraut, das nie vergeht – auch auf dem Schrottplatz des Lebens gedeihen, wenn es denn sein muss.
Wer empfindlich ist wie eine Orchidee, der hat also nicht unbedingt krank machende Gene. Wenn solche Kinder von Eltern, Lehrern oder anderen Bezugspersonen genügend gefördert werden, dann tragen sie offenbar ein großes Potenzial in sich. Das hat die Kinderpsychologin Marian Bakermans-Kranenburg auch schon in der Praxis bewiesen. Sie widmete sich Kindern mit ADHS, die schon im Alter zwischen ein und drei Jahren um sich schlugen, kaum ruhig zu kriegen waren und oft auf ihre Altersgenossen einprügelten.
Bakermans-Kranenburg besuchte die Familien dieser Kinder acht Monate lang. Sie filmte das Familienleben und sprach anschließend mit den Eltern, was diese im Umgang mit ihren anstrengenden Sprösslingen besser machen könnten. Bald darauf ging es in vielen Familien friedlicher zu. Doch am stärksten blühten die Kinder auf, die eine genetische Veranlagung für das Zappelphilipp-Syndrom hatten (sie hatten eine Mutation im DRD4-Gen): Ihr Verhalten besserte sich auf einer Skala der Psychologen um 27 Prozent, während die auffälligen Kinder mit an sich unproblematischer genetischer Ausstattung ein nur um 12 Prozent sozialkompatibleres Verhalten an den Tag legten.
Weitere Studien zeigten: Kinder mit dieser Genmutation konnten im Alter von drei Jahren sogar besonders umgänglich sein – wenn sie von Anfang an Eltern mit einem feinfühligen Erziehungsstil genossen hatten. Dann war ihr Liebreiz sogar größer als der von Gleichaltrigen ohne die so kritische Mutation.
Je intensiver Wissenschaftler sich das Zusammenspiel von Genen und Umwelt anschauen, desto verwirrender wird es.Inzwischen sind bei der Ausbildung von Resilienz-Merkmalen nicht nur Gen-Umwelt-Interaktionen gefunden worden, sondern auch schon Gen-Gen-Interaktionen. Epistase nennen Fachleute das, wenn die Aktivität eines Gens durch ein weiteres Gen in Gang gesetzt oder unterdrückt wird.
Dass Resilienz auf genetischer Ebene leicht zu beeinflussen sei, glaubt ohnehin niemand mehr. »Es spielen sicherlich zahlreiche Gene eine Rolle«, sagt der Persönlichkeitsgenetiker
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