Resturlaub
schüchtern in den anonymen, verglasten Bürotürmen, als ich mich frierend auf den Weg mache. Die Rushhour hat längst begonnen und so ist die ganze Stadt ein einziges verwaschenes und blinkendes Gehupe, ein dampfender, pumpender Moloch, der an den Nerven nagt. Auf einer großen, blauen Digitalanzeige blinken mir abwechselnd 3 Grad und 6:24 Uhr entgegen, aus den warmen U-Bahn-Schächten steigt weißer Dampf auf. Scharen von blassen, in Gedanken versunkenen Pendlern bahnen sich bibbernd ihren trostlosen Weg ins Büro oder zur
Therapie. An einem kleinen Platz steht ein alter Mann mit einem Wägelchen voller Thermoskannen. Ich gehe zu ihm und kaufe einen dampfenden Becher Matetee. Er fragt mich freundlich, wo ich herkomme und ob mir Buenos Aires gefällt, die Mädchen und alles .
»^Y, te gusta Buenos Aires? ^Las chicas, el tango, futbol, todo?«
»No!«
Mit meinem Tee gehe ich weiter. Und langsam aber sicher nimmt sich das weiße Pulver das zurück, was es mir am Abend gegeben hat: Mit jedem Schritt, den ich gehe, mit jedem Atemzug fühle ich mich beschissener. Ich wühle in meinen Hosentaschen, doch leider ist nichts mehr drin in Lunas GuteLaune-Briefchen. Koks ist offenbar nicht wirklich eine Partydroge, sondern ein Selbstbewusstseinskredit mit 50 Prozent Zinsen.
Ich muss ewig gelaufen sein, denn als ich vor Stefanos Kneipe in San Telmo ankomme, ist es bereits kurz vor neun. Ich klopfe gegen die Scheiben, doch niemand öffnet. So fest poche ich an der Eingangstür, dass mir die Hände schmerzen. Und noch während ich dagegen hämmere, blicke ich hoch zu einem frisch angebrachten Kneipenschild. Ich trete einige Meter zurück und erstarre augenblicklich. Stefano hat tatsächlich auf meinen Rat gehört und sein Bierhaus umbenannt. Stefanos Bierhaus, so steht es auf großen, goldenen Buchstaben unter einem Geweih, heißt nun »Zur Hirsch«.
Erst als ich von einem Taxifahrer angehupt werde, bemerke ich, dass ich mitten auf der Straße stehe. Ich gehe zurück, zünde mir eine Zigarette an und setze mich in den Hauseingang. Ich nutze die Zeit, um eine Zigarette zu rauchen und mein ins Jackenfutter gerutschtes deutsches Handy zu befreien. Ich drücke und ziehe, finde aber keine Öffnung. Schließlich beiße ich das Futter auf und ziehe es heraus.
Kurz darauf kommt ein gut gelaunter Hirsch um die Ecke, der in der einen Hand eine Sporttasche und in der anderen seinen eigenen Kopf trägt: Stefano. Erschrocken bleibt er stehen, als er mich mit meinem blutigen Hemd auf seinen Stufen sitzen sieht. »Für Himmels willen!« »ZUR Hirsch?«, frage ich.
»Komm, gehen wir erst mal rein und trinken eine Tee!«, sagt der Hirsch und schließt die Kneipentür auf. Ich folge ihm.
»Warum geht nicht Zur Hirsch? Bedeutet schlimm das Tier?«, fragt Stefano, während er fast ein wenig ängstlich hinter dem Tresen heißes Wasser in zwei große Tassen gießt. Ich kann nicht glauben, dass er seine Kneipe umbenannt hat, ohne auch nur einen einzigen Deutschen zu fragen. »Zur Hirsch geht nicht!«
»Warum denn nicht?«
»Weil es genauso falsch ist wie Zum Gemütlichkeit! Frag mich doch vorher, ich bin doch Deutscher!«
»Franke!«, verbessert mich Stefano im Scherz, doch ich kann nicht drüber lachen. »Für Argentinier ist nicht so wichtig, der Buchstabe.«
»Und vielleicht sagst du mir einfach mal, warum du ein Hirschkostüm anhast. Okay, wegen des Namens, aber ... willst du darin bedienen?«
Bei einer weiteren Tasse Tee erklärt mir Stefano seinen Plan. Als Hirsche verkleidet, werden wir die dreißigsekündigen Rotphasen auf der Avenida 9 de Julio nutzen, um den wartenden Autofahrern Stefanos Werbebotschaften näher zu bringen: lestres por el tränsito? auf dem Hintern und jtomate un chopp alemän en el zur hirsch, San Telmo! auf dem Bauch. Normalerweise wäre ich ausgeflippt, aber jetzt sitze ich nur da, starre Stefano an und trommle mit den Fingern auf den Holztresen.
»Und was heißt das genau, por el transito?«, frage ich Stefano.
»Das auf Hintern heißt: hast du viel Stress im Verkehr? Und auf dem Bauch trink einen Krug deutsches Bier im Zur Hirsch! Gut, oder?«
»Klingt auf Spanisch besser«, sage ich, doch Stefano lässt sich nicht beirren.
»Wichtig ist Choreographie!«, erklärt er mir begeistert.
»Welche Choreographie?«
Aufgeregt kommt Stefano hinter seinem Tresen hervor, schiebt zwei Tische zur Seite und mich mitsamt Stuhl in die Mitte des Raumes.
»Okay, du bist jetzt Autofahrer!«, erläutert er und deutet
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