Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
lage n im Licht der Kerzen in den schmiedeeisernen Betten um sie herum. Zwei waren wach und unterhielten sich flüsternd. Sie blickten in ihre Richtung, sprachen sie aber nicht an.
Retra stieg aus ihrem Bett und schlich auf nackten Füßen aus dem Schlafraum.
Sie kam in einen Flur, der zu weiteren Zimmern führte, deren Türen alle fest geschlossen waren. Zu bizarren, verdrehten Formen geschmolzene Kerzen leuchteten ihr den Weg, als sie leise weiterging, die Hand an dem Schlüssel um ihren Hals. Als Erstes musste sie die Kleider finden, von denen Charlonge gesprochen hatte.
Doch als sie an der Treppe ankam, zogen sie musikalische Klänge ans andere Ende des Korridors. Kandelaber, die an der Wand befestigt waren, tauchten einen großen Balkon in ein strahlend helles Licht, das die Schatten bis in die letzten Ecken vertrieb und die gedämpften Farben der zahlreichen Buntglasfenster erkennen ließ. Hoch über ihr erhob sich die gewaltige Gewölbedecke mit breiten Rippen. Unter ihr lag der Altarraum der Kirche von Vank.
Retra blickte zu der größten Apsis hinunter, wo ein Gitarrist auf einem Altar saß und eine traurige Melodie zupfte. In den Bänken im Hauptschiff rekelten sich ein paar Leute und hörten zu und oder sprachen miteinander. Vor einem der Beichtstühle hatte sich eine Schlange gebildet. Da standen vor allem junge Mädchen, in schwarzer Spitze und Seide, so wie Retras Nachthemd, doch tiefer ausgeschnitten und freizügiger, kunstvoll zerrissen oder rückenfrei. Retra musste an Charlonges Worte denken: In Ixion ist Sittsamkeit eine Sünde.
»Tja, die Insel ist doch offenbar klein«, sagte eine scharfe Stimme nahe an ihrem Ohr.
Retra schrak zusammen und sah sich um. »Cal?«
Ohne die Tunika aus Grave sah das Mädchen, das sie auf der Fähre kennengelernt hatte, ganz anders aus. Ihr langes Haar verdeckte nur notdürftig den tiefen Ausschnitt ihres Nachthemdes.
Wie von selbst wanderte Retras Blick zu ihrem nackten Brustansatz. Verlegen errötete sie.
Cal bemerkte es. »Ganz locker, Seal. Kein Wunder, dass ihr hier nicht erwünscht seid.«
Ihre offene Feindseligkeit schockierte Retra. Sie wünschte, ihre Wege hätten sich nicht wieder gekreuzt. Trotzdem konnte sie sich die Frage nicht verkneifen. »Ist Markes hier?«
Cal zuckte die Achseln und schob die Unterlippe vor. »Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn bei der Wiedergeburt aus den Augen verloren. Was ist mit dir passiert? Dein Freund sucht nach dir.«
»M-mein Freund?«
»Rollo. So heißt er, hat er gesagt. Fragt überall nach dir. Er hat Angst, du wärst durchgedreht und über die Klippe gehüpft.«
»Ich … ich wollte die Kirchen sehen. Diese hier lag in der Nähe.«
Cal starrte sie an. Argwöhnisch glitzerten ihre Augen im Kerzenlicht. »Das glaube ich dir nicht. Ich vermute eher, du bist vor der Wiedergeburt weggerannt. Seals bringen es nicht über sich, ihre Kleider auszuziehen. Sie glauben, Nacktheit sei Sünde.«
Mit einer schnellen Bewegung zog Cal am Ausschnitt ihres Satinnachthemds und entblößte eine ihrer kleinen Brüste. Die Brustwarze war so blass und weich wie ein exotisches Tiefseewesen.
Retra senkte den Kopf. Vor Scham drehte sich ihr der Magen um. Noch nie hatte sie den Körper eines anderen Mädchens so aus der Nähe gesehen, so unzüchtig.
»Dachte ich’s mir doch!« Cal klang triumphierend.
Als sie überlegte, was sie sagen sollte, drang ihr der Geruch von Rosen in die Nase, der ihr sagte, dass sich ihnen noch jemand näherte.
»Aaah, kleine Fledermäuse, wie ich sehe, macht ihr Bekanntschaft«, sagte Charlonge.
Cal ließ ihr Nachtkleid los, sodass es wieder über ihre Brust fiel. »Wie lange müssen wir diesen dummen Spitznamen noch ertragen?«
Charlonge trat näher. Es war ihr Atem, der den süßen Blumenduft verströmte. »Bis ihr euch einen echten verdient habt.«
Cals Augen weiteten sich kurz, dann lachte sie schrill auf und ging den Korridor zurück.
»Danke«, sagte Retra.
Charlonge seufzte. »Ganz besonders du musst schnell lernen … Welchen Namen willst du in Ixion tragen? Es ist üblich, dass sich die Neuankömmlinge einen anderen Namen aussuchen. Zum Zeichen des Neuanfangs.«
»Ich weiß nicht«, antwortete Retra. Die Frage überraschte sie. Auch wenn viele ihren Seal-Namen nicht schön finden mochten, es war doch immer noch ihrer. Sie wollte ihn nicht ändern. Sie wollte hier, an diesem Ort, nicht ihre Identität aufgegeben.
Charlonge sah, dass sie zögerte, und zuckte die Achseln. »Ich
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