Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
Lenoir über Brand Bescheid. Nicht, dass wir glauben, er würde etwas dagegen unternehmen …«
Als sie Lenoirs Namen hörte, erschauderte Retra. »Was ist mit dem Jugendkomitee? Solltet ihr es dem nicht vortragen?«
»Das sind Nieten«, sagte Kero.
»Die tun doch nichts anderes, als sich schwarze Kugeln einzuwerfen und sich bei Varonessa und Lenoir einzuschleimen«, stimmte Krista-belle ihm zu.
»Warum sollte ich zu diesem Treffen kommen? Glaubst du, Joel ist da?«
»Du hast gesagt, er sagt offen, wenn ihm was nicht passt. Wenn das stimmt, dann hat er sich vermutlich einer der Gangs angeschlossen, und die werden alle kommen. Wenn du dabei bist, erkennst du ihn vielleicht.«
Retra nickte langsam. Was Kero sagte, hörte sich logisch an. »Nach dem nächsten Frühdämmer?«
»Ja«, sagte Kero. »In der Grotte.« Er bedeutete ihr, sich näher zu ihm beugen.
Steif richtete sich Retra nach vorn, bis ihr Ohr an seinem Mund war.
»Das Passwort, um durchs Tor zu kommen, lautet: Alter des Zorns«, sagte er.
Sie nickte und richtete sich auf. »Danke.«
»Kero wird dir helfen, ihn zu finden. Kero kennt hier jeden«, sagte Krista-belle. Sie lehnte sich zur Seite, zog ihren Freund zu sich heran und wackelte mit der ausgestreckten Zunge vor seinen Lippen.
Er öffnete den Mund und saugte laut schmatzend daran.
»Eklig«, verkündete Suki.
Retra sah sie an.
Suki neigte den Kopf. »Lass uns was essen gehen.«
»Willst du wirklich zu diesem Treffen gehen?«, fragte Suki, den Mund voll durchwachsenem Speck und roten Chilibohnen.
Sie hatten sich den Tisch ausgesucht, der am weitesten von dem Vorhang des Speisesaals entfernt war. Während sie sich die Teller vollluden, waren erst Kero und Krista-belle, dann die anderen White Wings einer nach dem anderen verschwunden, sodass nur noch ein paar Neue an den Tischen saßen, die ihnen neugierige Blicke zuwarfen. Aber wenigstens hatte Charlonge sie nun nicht mehr unter Beobachtung.
Retra nickte. Sie hatte sich eine Schale mit gesüßtem Getreidebrei und ein paar Scheiben hauchdünnes Brot genommen. Das Brot zerging auf der Zunge wie Butter. Sie blickte zur Theke, um nach dem Uther zu suchen. Wenn sie sich sehr konzentrierte, konnte sie ihn sehen, wie er Rühreier von einer Silberplatte auf eine andere kratzte. Ob sie es wohl auch waren, die das Essen zubereiteten?, fragte sie sich. Als sie sich vorstellte, wie ihre dünnen, grauen Finger den Teig kneteten, wurde ihr ein bisschen übel.
»Also, wer ist dieser Joel?« Suki hatte ihr Verhör noch nicht beendet.
Retra zögerte.
»Komm schon, ich habe dir auch von Liam und unserem Blutspakt erzählt«, sagte Suki.
Retra sah sich um. Es war niemand in der Nähe, der ihre Unterhaltung hätte belauschen können. Suki von Joel zu erz ählen widerstrebte ihr als Seal zutiefst. Doch Krista-belle und Kero wussten schon von ihm, und Suki war immer freundlich zu ihr gewesen. Außerdem gefiel Retra die Art, wie sie für sich einstand. Tatsächlich beneidete sie sie sogar darum.
»Er ist mein Bruder«, flüsterte sie.
»Ach?« Suki kaute eine Weile. »Na ja, ich nehme an, es passiert nicht zum ersten Mal, dass eine Schwester ihrem Bruder hierhin folgt. Oder umgekehrt. Meine Schwester ist eine Shicka . Der würde ich nicht mal bis zum Ende der Straße folgen.«
Retra zog die Augenbrauen hoch.
»Ein Hausmütterchen. Kocht gern und baut Hochlandlavendel an.«
Retra hätte ihr gern erklärt, dass sie Joel nicht gefolgt war, um mit ihm hier in Ixion zu leben, sondern um ihn zu überreden, mit ihr woandershin zu gehen. Doch trotz Sukis Offenheit und Ehrlichkeit fiel es ihr schwer, so viel von sich preiszugeben. »Dass es außer mir noch Schwestern gibt, die ihre Brüder suchen? Ich nehme es an.«
Suki schlug sich in gespielter Verärgerung an den Kopf. »Du musst aufhören, dich so steif auszudrücken. Du klingst dann so alt. Wie meine Großmutter. Das heißt ›Kann sein‹ und nicht ›Ich nehme es an‹.«
Retra lächelte. »Ich nehme an, so ist es.«
Sie lachten beide.
Bei Suki hörte es sich leicht und natürlich an. Bei Retra so, als würde die Tür eines Käfigs geöffnet werden, der viel zu lange verschlossen gewesen war, unsicher und ein wenig knarrig.
Suki schlug ihr auf den Rücken, als hätte sie sich verschluckt.
Und dann lachten sie weiter.
Bis Charlonge plötzlich an ihrem Tisch stand.
Die Betreuerin war immer noch angespannt. Retra sah es an ihren steifen Schultern und dem geraden Hals. »Was haben die White Wings
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