Rette meine Seele - Vincent, R: Rette meine Seele
Straßen prompt verfuhren. Die Straßennamen ähnelten sich alle, und sogar die Häuser sahen im Dunkeln alle gleich aus.
Während wir Straße um Straße abfuhren und dabei vergeblich versuchten, Addison auf dem Handy zu erreichen, verstrich die Halb-Elf-Sperrstunde, die mein Vater mir auferlegt hatte. Irgendwann einigten wir uns darauf, dass Nash weiterfahren und ich einen Blick in die Unterwelt werfen würde, um zumindest die grobe Richtung herauszufinden. Ich ließ mich nur widerwillig darauf ein – äußerst widerwillig.
Und so kam es, dass ich mir mitten in der Nacht auf dem Beifahrersitz meines Autos Emmas Tod ins Gedächtnis rief. Ich zwang mich dazu, alles noch einmal zu durchleben, und beruhigte mich mit dem Gedanken, einem anderen Menschen zu helfen. Dass es nicht darum ging, meine Fähigkeiten auszuloten,sondern die Seele eines dreizehnjährigen Mädchens zu retten, das keinen blassen Schimmer davon hatte, worauf es sich einließ.
Doch nichts von alldem half.
Es fiel mir immer noch wahnsinnig schwer, meinen Schrei heraufzubeschwören, weil ich mich eigentlich gar nicht daran erinnern wollte, wie Emma im Augenblick des Todes ausgesehen hatte. Ihr völlig ausdrucksloses Gesicht und die Augen, die zur Turnhallendecke hinaufgestarrt hatten, als könnte sie direkt hindurch bis in den Himmel sehen. Obwohl sie in Wirklichkeit gar nichts mehr gesehen hat …
Das half. Der Schrei wuchs in meiner Brust und versuchte mit aller Macht, sich aus meiner Kehle zu befreien, doch ich hielt ihn zurück. Schluckte ihn so gut es ging hinunter, wie Harmony es mir gezeigt hatte. Nur ein sachtes, hohes Wimmern drang aus meinem Mund und summte in meinen Ohren. Und nach und nach legte sich ein dünner grauer Nebel über die Welt, der das ohnehin spärliche Licht schluckte.
Da ich lediglich von außen in die Unterwelt hineinblickte und sie nicht wirklich betrat, spaltete sich mein Sehvermögen auf und ich sah die beiden sich überlagernden Welten getrennt voneinander. Wie wenn man einen 3-D-Film ohne passende Brille ansieht. Die Bilder waren ein wenig verschoben.
Und die Unterwelt wurde nicht von dem blassen Mond erhellt, der in der Menschenwelt am Himmel stand, sondern von einem weißen Leuchten, das von oben zu kommen schien. Es erinnerte mich an die Lichter einer entfernt liegenden Stadt, die bei Dunkelheit von niedrig hängenden Wolken reflektiert werden. Ein diffuses, kaltes Licht, das die Welt vor meinen Augen verschwimmen ließ, anstatt sie zu erhellen.
Doch meiner Erfahrung nach war das ganz normal. Ich hatte in der Unterwelt noch nie besonders weit sehen können unddeshalb bei jedem Schritt das Gefühl, dass ich in einen klaffenden Spalt fallen oder über den Rand der Welt hinausstolpern könnte. Aus diesem Grund bewegte ich mich immer äußerst vorsichtig. Oder kniff einfach die Augen zu und schüttelte den Kopf, bis die Unterwelt ganz verschwunden war.
Ich unterdrückte meinen Überlebensinstinkt und widerstand dem Drang, die Unterwelt zu verleugnen. Ich musste in beiden Welten suchen, wenn ich Regan und Addy rechtzeitig finden wollte.
„Was siehst du?“ Eigentlich hätte Nash die Unterwelt auch sehen können, weil er mein Wehklagen hörte, aber jemand musste ja fahren.
Solange der Schrei noch da war, konnte ich ihm nicht antworten. Also zuckte ich die Schultern und blinzelte angestrengt in die Dunkelheit. Bis jetzt sah ich nur den üblichen grauen Nebel, der nach oben hin blasser wurde, und die unheimlichen Schemen am Rande meines Sichtfeldes.
Es war so, wie Harmony gesagt hatte: Privathäuser existierten in der Unterwelt nicht. Daher war Addys Wohngegend jetzt von einer zweiten Schicht Kiesauffahrten und Bürgersteigen überdeckt, die alle im Nichts endeten. Mein Gehirn gaukelte mir vor, dass es sich bei dem Kies um gemahlene Knochen handelte. Von welchen Wesen sie stammten, wollte ich mir lieber nicht ausmalen …
Was würde ich wohl zu sehen bekommen, wenn ich die Unterwelt tatsächlich betrat? Wie sahen die Häuser aus? Und konnte ich hineingehen? Wollte ich das überhaupt?
„Wie sieht’s aus?“ Nashs ungeduldiger Tonfall erinnerte mich daran, dass wir uns beeilen mussten. Ich kniff die Augen zusammen und erspähte eine Reihe von Umrissen, die dunkler waren als die anderen. Umrisse, die sich nicht bewegten, zumindestnicht von uns weg.
Ich deutete in die Richtung und zuckte erschrocken zusammen, als ich mit dem Finger gegen die Seitenscheibe stieß. Vor lauter Konzentration auf diese andere Welt
Weitere Kostenlose Bücher