Rette mich vor dir
Unter normalen Umständen hätte Castle darauf bestanden, dass wir als Gruppe zusammenbleiben. Aber er hat uns erklärt, dass diese Anordnung zum Nutzen aller ist. Wir sind bereit, Opfer zu bringen. Im Notfall lässt sich einer erwischen, damit die anderen entkommen können.
Einer für alle.
Wir begegnen niemandem.
Wir sind seit etwa einer Stunde unterwegs; dieses Gelände hier scheint nicht überwacht zu werden. Die Siedlungen kommen in Sicht. Endlose Reihen von Stahlkästen, übereinandergestapelt auf der gepeinigten Erde. Ich ziehe meine Jacke dichter um mich. Der Wind ist so schneidend, als wolle er uns zerlegen.
Es ist zu kalt für lebende Wesen.
Ich trage meinen Anzug – der meine Körpertemperatur automatisch reguliert – unter der Tarnkleidung und friere trotzdem schrecklich. Für die anderen muss es geradezu unerträglich sein. Ich schaue verstohlen zu Brendan hinüber. Unsere Blicke begegnen sich für einen kurzen Moment, aber ich könnte schwören, dass Brendan mir ein kurzes Lächeln zugeworfen hat. Seine Wangen sind so rot, als wolle der peitschende Wind ihn strafen für seine ausschweifenden Blicke.
Diese blauen Augen.
Ein hellerer, beinahe durchscheinender Farbton, aber dennoch so blau, so leuchtend blau. Blaue Augen werden mich wohl immer an Adam erinnern. Und es trifft mich wieder wie ein Faustschlag in meine Mitte.
Der Schmerz.
»Beeilt euch!«, zischt Kenji, der nirgendwo zu sehen ist. »Bedeckt eure Gesichter, wenn ihr in der Nähe der Siedlungen seid! Soldaten auf drei Uhr!«
Wir hasten voran, und als wir bei einem der Siedlungsblöcke angelangt sind, beginnen wir sofort in den Müllbergen zu wühlen, als suchten wir wie die anderen hier nach verwertbaren Materialien.
Die Siedlung ist umgeben von Abfallhaufen, und überall sind Plastikfetzen und Metallstücke verstreut. Eine dünne Schneeschicht liegt über allem, als wolle die Natur ihren schlimmen Zustand kaschieren. Was nicht mehr gelingen kann.
Ich schaue auf.
Blicke über die Schulter.
Was ich eigentlich nicht tun soll. Ich soll mich so verhalten, als würde ich hier wohnen, als gäbe es nichts Interessantes zu sehen, als müsste ich mich vor dem eisigen Wind schützen. Ich sollte mit gesenktem Kopf dastehen, um mich warm zu halten, wie die anderen. Aber es gibt so viel Neues hier. So vieles, was ich noch nie zu Gesicht bekommen habe.
Deshalb wage ich es, den Kopf zu heben.
Und der Wind packt mich an der Kehle.
20
Nur wenige Meter entfernt von mir steht Warner.
Sein maßgeschneiderter Anzug aus tiefschwarzem Stoff sitzt wie angegossen. Über den Schultern trägt er eine offene Uniformjacke, grün wie Moos im Sommerwald, ein paar Schattierungen dunkler als seine leuchtend grünen Augen; die goldenen Knöpfe schimmern im selben Farbton wie sein Haar. Er trägt eine schwarze Krawatte. Schwarze Lederhandschuhe. Glänzende schwarze Stiefel.
Er sieht perfekt aus.
Makellos. In dieser trostlosen, verwüsteten Umgebung ist er wie eine Vision – smaragdgrün, onyxschwarz, flüssiges Gold, von Licht umflutet. Sein Kopf könnte auch von einem Heiligenschein umspielt sein. Das wäre dann der Gipfel der Ironie. Denn Warner ist sogar noch schöner als Adam.
Doch er ist nicht menschlich.
Nichts an ihm ist normal.
Er blickt um sich, blinzelt, und seine Jacke klappt für einen Moment auf, als der Wind daran zerrt. Ich sehe Warners Arm. Bandagiert. In einer Schlinge.
So nah.
Ich war ihm so nah.
Die Soldaten in seiner Nähe warten auf etwas, warten auf Befehle. Es gelingt mir einfach nicht, den Blick abzuwenden. Ich muss mir eingestehen, dass ich es aufregend finde, Warner so nah und zugleich so fern zu sein. Weil ich ihm auf diese Art überlegen bin: Ich kann ihn beobachten, ohne dass er es weiß.
Er ist so ein merkwürdiger, kranker Typ.
Ich weiß nicht, ob ich jemals vergessen kann, was er mir angetan hat. Wozu er mich gezwungen hat. Dass ich beinahe erneut getötet hätte. Dafür werde ich ihn immer hassen, auch wenn ich ihm wohl irgendwann wieder gegenübertreten muss.
Eines Tages.
Niemals hätte ich damit gerechnet, Warner in den Siedlungen zu begegnen. Ich wusste nicht einmal, dass er sich in die Nähe von Zivilisten begibt. Wobei ich natürlich überhaupt nicht wusste, womit er seine Tage zubrachte, wenn er nicht gerade in meiner Nähe war.
Schließlich sagt er etwas zu den Soldaten, die knapp nicken. Und dann verschwinden.
Ich achte darauf, den Kopf gesenkt zu halten und leicht abzuwenden, damit er mein Gesicht nicht
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