Rettungskreuzer Ikarus Band 017 - Das Anande-Komplott
den richtigen Ansatz fand,
dann würde diese Maske zur Seite gerissen, und darunter würde der
alte Anande warten wie eine dämonische Fratze. Er fürchtete sich davor,
sich dann selbst in die Augen sehen zu müssen. Jemanden zu erkennen, der
all seine moralischen Werte, seine Ansichten und seine Ethik als Schwäche
belächelte. Und dann von diesem alten Ich überrannt zu werden, denn
es schien nicht viel gegeben zu haben, was sich ihm in den Weg stellen konnte.
Anande hatte den Ausdruck auf den Gesichtern seiner Kollegen von der Ikarus gesehen, als die Bilder von dem Kant'Takki-Embryo im Gerichtssaal schwebten.
Da war nichts gewesen außer Erschrecken und Abscheu. Er konnte es ihnen
nicht verübeln. Alles, was sie nun über ihn dachten, war vermutlich
gerechtfertigt, und er ging nicht davon aus, dass es etwas Gutes war. Wie sollte
er von ihnen verlangen, was er selbst nicht konnte ...
Langsam öffnete Anande die Augen und schaute hinunter auf das Lichtermeer
der Stadt. Die Verlockung, sich über die Brüstung zu schwingen und
sich fallen zu lassen, war für einen Moment fast unwiderstehlich. Dann
wäre der Kampf vorbei, und alles wäre still und gut. Keine weiteren
Wahrheiten, kein Schmerz. Eine gute, schnelle, saubere Lösung, für
ihn selber ebenso wie für die Ikarus . Aber Ärzte stürzten
sich nicht von Hochhäusern zu Tode. Sie nahmen eine Überdosis irgendeines
Medikamentes, das zum Heilen gedacht war und zum Töten geeignet, irgendeinen
Stoff mit einem hochkomplizierten Namen, den ein Laie nicht einmal vorlesen
konnte. Das war die Mordwaffe eines Arztes.
Aber was machte ein wahnsinniger Genetiker? Injizierte er sich mutierte Viren,
die dann die Aufgabe hatten, sein Gehirn zu zersetzen? Oder, er lachte innerlich
bitter, in seinem Fall die Reste davon. Dann wäre wenigstens auch der alte
Anande tatsächlich vernichtet, wenn er keine Seele hatte, die das alles
überstand. Eine Seele voller dunkler Flecken, unsterblich. Der ein Sturz
nichts ausmachte, kein Gift und keine Viren. Die nichts vergessen hatte und
die er mitnehmen würde – wohin auch immer.
Vielleicht war der Tod auch keine Lösung.
Langsam, fast widerwillig wandte sich Anande von dem Anblick der unter ihm liegenden
Stadt ab und ging zurück in sein Zimmer. Der Wind hatte ihn ausgekühlt,
seine Hände und sein Gesicht waren taub. Er wünschte sich, sein Inneres
wäre es auch. Er war sehr müde, und es war ein Dröhnen in seinem
Kopf, das in den Schläfen pulsierte. Ohne sich auszuziehen, ließ
er sich auf das Bett fallen, starrte an die Decke und betete darum, dass der
Schlaf schnell kommen würde – und ohne Träume.
Ein sanfter, rotgoldener Schein erhellte das Hotelzimmer und warf flackernde
Schatten an die Wände. Das Feuer in dem Kamin war nicht echt – niemand
auf dem dicht besiedelten Planeten Regulus konnte es sich leisten, einfach so
Holz zu verbrennen. Aber es war ein gutes Hologramm über künstlichen
Scheiten, und die Wärme, die von ihm ausging, war angenehm. Sally vermisste
das plötzliche, Funken schleudernde Zusammenbrechen des Holzstapels und
die Notwendigkeit, sich vorzubeugen und nachzulegen. Auch der Geruch fehlte.
Aber es war gut, hier zu sitzen.
Seit fast einer Stunde genoss sie die Stille des Raumes und den Geschmack des
»RegMalt« in ihrem Glas – sie glaubte nicht, dass dieser lokale
Whiskey sein volles Aroma in alten Fässern nach jahrzehntelanger Lagerung
erhalten hatte, doch er war in Ordnung und brachte allerlei Erinnerungen mit
sich. Ein feines Lächeln erschien auf dem Gesicht Sallys, und sie warf
einen kurzen Seitenblick hinüber zu dem zweiten Sessel, der vor dem Kamin
stand. Das Glas von Hwang Thang war fast leer.
»Eurer war besser«, gab der Anwalt zu, als er McLennanes Blick spürte.
»Unserer war echt. Mein Vater hatte ihn selbst gebrannt und mir ein Fass
davon zu meiner Geburt geschenkt.«
Hwang lachte.
»Auf diese Idee kann auch nur jemand mit schottischen Vorfahren kommen.
Aber ich bin deinem Vater dankbar dafür. Es war der beste Whiskey, den
ich je getrunken habe.«
»Das Fass ist mittlerweile leer.« Irgendwie versetzte dieser Gedanke
Sally einen kleinen Stich. Sie war sentimental an diesem Abend. Aber Hwang hatte
immer diese Wirkung auf sie gehabt. Vielleicht war das einer der Gründe,
weshalb es letztlich nicht mit ihnen beiden geklappt hatte.
»Es ist ja auch schon lange her. Über zehn
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