Rettungslos
und auf die angrenzenden Felder. Der Nebel hat sich gelichtet.
8
Früher dachte Lisa, Glück sei etwas, das man einfordern kann wie eine Art Geburtsrecht, und mit einer positiven Lebenseinstellung sei man allen Situationen gewachsen. Glücklichsein hielt sie für eine Eigenschaft, und insgeheim empfand sie Verachtung für jene Menschen, die ständig klagten oder in Depressionen verfielen. Würden sie sich zusammenreiÃen, statt ihr Los zu bejammern, könnte sie weit mehr Respekt für sie aufbringen.
Inzwischen weià sie, dass Glück nicht nur eine Frage der Einstellung ist und sich schon gar nicht erzwingen lässt. Ihre positive Grundhaltung hat sie nach wie vor, doch heute ist ihr viel stärker bewusst, dass der Mensch ein Spielball des Schicksals ist. Und dass es manche besonders hart trifft.
Dass ihre idealistischen Vorstellungen und die harte Realität zweierlei sind, hat Lisa längst begriffen. Man kann ganz plötzlich von einem Schicksalsschlag getroffen werden, und nach der Sache mit Menno glaubte
sie, das Schlimmste hinter sich zu haben. Doch nun befindet sie sich in einer völlig verzweifelten Lage, die sie nie und nimmer für möglich gehalten hätte: Ein entflohener Verbrecher hält sie in ihrem eigenen Haus fest! Wie groà ist, statistisch gesehen, die Gefahr, dass ein solcher Mensch ausgerechnet bei ihr auftaucht? Die Chancen auf einen Sechser im Lotto dürften höher sein.
Warum ich?, grübelt sie und gibt sich sogleich selbst die Antwort: warum nicht ich?
Der Mann hätte sich ebenso gut bei Frau Rosenfeld, die ein Stück weiter wohnt, einnisten können, aber er ist nun einmal hier, und die Nachbarin ahnt nicht, was ihr erspart geblieben ist.
Den restlichen Nachmittag verbringt Lisa auf dem Sofa, liest Anouk aus ihren Lieblingsbüchern vor und behält dabei Kreuger unauffällig im Auge. Immer wieder setzt er sich vor den Fernseher und zappt durch die Kanäle, zwischendurch springt er auf und geht unruhig hin und her.
Dazu hat er auch allen Grund, denkt Lisa mit grimmiger Genugtuung. Es kann nicht mehr lange dauern, und die Polizei steht vor der Tür.
Wo bleibt sie nur? Dass man Kreuger nach seiner Flucht aus den Augen verloren hat, ist eine Sache, aber die Frau, die am frühen Nachmittag am Fenster stand, müsste ihre Beobachtung doch längst gemeldet haben. Glaubt man ihr womöglich nicht? Oder ist sie jemand, der sich lieber keine Probleme auf den Hals lädt? Ist sie einfach nach Hause gefahren?
Nein, denkt Lisa entschieden, das kann nicht sein.
Wenn sie selbst auch nur den geringsten Verdacht hätte, dass irgendetwas nicht stimmt, hätte sie umgehend etwas unternommen. Sie schon.
Aber gilt das für jeden?, meldet sich eine Stimme in ihrem Kopf. In dieser gewalttätigen, egoistischen Welt haben viele nur eines im Sinn, nämlich wegschauen, wenn es irgendwo Probleme gibt. Sich auf keinen Fall einmischen, wer weiÃ, was einen dann erwartet.
»Lies weiter, Mama.« Mit glasigen Augen sieht Anouk sie an, und Lisa beeilt sich weiterzulesen. Sie hat überhaupt nicht bemerkt, dass sie aufgehört hatte und ihre Gedanken abgeschweift waren. Mechanisch und fast tonlos liest sie die Geschichte zu Ende. Als sie das Buch zuklappt, schlieÃt Anouk erschöpft die Augen.
»So, mein Kleines, schlaf jetzt ein bisschen.« Zärtlich streicht sie ihrer Tochter über das weiche dunkle Haar. Anouk hustet ein paar Mal, und Lisa hört, wie sich der Schleim in ihrer Lunge löst.
»Sieht ganz so aus, als hätten heute fast alle Kinder Atemwegsprobleme«, brummt Kreuger.
»Es werden immer mehr«, bestätigt Lisa.
»Das kommt von dieser elenden Umweltverschmutzung. Wir vergiften die Umwelt, und unsere Kinder bezahlen dafür mit ihrer Gesundheit.«
Ob Kreugers Kinder auch an Bronchitis oder Asthma leiden? Ohne zu überlegen, fragt Lisa nach. Langsam dreht er sich zu ihr um. Einen Moment lang befürchtet sie, ihm zu nahe getreten zu sein, aber er beantwortet ihre Frage ganz sachlich.
»Ja, mein Sohn hatte schweres Asthma. Noch schlimmer
als sie.« Bei diesen Worten wirft er einen mürrischen Blick auf Anouk, als könnte die Kleine etwas dafür.
»Und du glaubst, das kam durch die Umweltverschmutzung?«, hakt Lisa vorsichtig nach. Sie hat sehr wohl registriert, dass er die Vergangenheitsform benutzt hat.
»Selbstverständlich kommt das durch die
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