Return Man: Roman (German Edition)
Fantasie. Er hatte dann am Geländer des atemberaubenden Abgrunds gestanden, nachdem fünf Stunden Autofahrt ihn irgendwie auf einen anderen Planeten befördert hatten, der aus unzähligen Schichten von rotem und goldenem und grünem Gestein geformt war. Noch nie hatte er sich so winzig gegenüber der Natur gefühlt, so machtlos und außerstande, den Lauf der Welt zu ändern. Sechs Millionen Jahre, hatte er sich gesagt. So lang hat es gedauert. Danielle hatte sich bei ihm untergehakt, und sie hatten sich eine Erdbeereiswaffel geteilt und den Anblick förmlich eingesogen. Und es war ihm in den Sinn gekommen, dass in geologischen Zeiträumen seine Existenz auf der Erde genauso flüchtig wäre wie Hannahs– so schnell vorbei, dass man fast darauf hätte verzichten können, überhaupt geboren zu werden. Er war errötet, hatte Tränen unterdrückt und den Gedanken für sich behalten. Danielle wäre damit überhaupt nicht einverstanden gewesen.
Und nun wurde er wieder von diesem Gefühl überwältigt. Das Gefängnis war ein Moloch, und er war eine winzige Milbe. So klein und schwach. Er starrte schon wieder in einen Abgrund.
» Die Anlage ist doch viel zu groß«, sagte er zu Wu. » Wie zum Teufel sollen wir Roger denn da drin finden?«
Der Gefängniskomplex umfasste etwa zweihundertfünfzig Hektar Wüste, eine imposante Metropole aus roten quaderförmigen Gebäuden, die von einer hohen Betonmauer umgeben wurden. Er dräute am nördlichen Horizont wie eine mächtige Ruine, die durch eine archäologische Grabung wieder das Licht der Welt erblickt hatte– trist und bedrohlich. Auch wenn sie dem Schoß der Erde wieder entrissen worden war, war sie eindeutig tot. Daran gab es keinen Zweifel. Es kreisten so viele Geier über den Schieferdächern, dass der Himmel schwarz von ihnen war. Marco verspürte ein mulmiges Gefühl.
Weiß Gott, was hinter dieser Mauer auf sie wartete.
Wu nahm den letzten Schluck aus der Feldflasche und schielte zu Marco. Sie waren noch etwa achthundert Meter vom Haupttor entfernt und wurden langsamer. Marco registrierte ihren zögernden Gang– wie Boxer, die sich in der letzten Runde umkreisten und darauf warteten, den entscheidenden Treffer zu landen. Die Sonne schrammte über die Berge im Westen, und der Himmel verfärbte sich plötzlich wie ein Bluterguss. Als hätte man auch ihm den Arsch versohlt.
In spätestens einer Stunde würde die Sonne untergehen. Vor ihnen erstreckte sich die lange Zufahrt zum Gefängnis und endete schließlich vor einem massiven Eisentor mit Gitterstäben.
Selbst aus der Ferne erkannte Marco, dass das Tor geschlossen war.
» Wir sollten nicht herumtrödeln«, sagte Wu. » Wir müssen noch einen Weg hineinfinden.«
» Osbourne sagte etwas von einer Bresche«, erinnerte Marco sich. » Es muss irgendwo ein Loch geben. Wenn wir hier keins sehen, ist es vielleicht an einer anderen Seite.«
Je näher sie dem Haupttor kamen, desto nachdenklicher wurde Marco. Er stellte sich vor, wie neue Gefangene auf dieser Straße nach Sarsgard gebracht worden waren. Sie mussten sich gefragt haben, ob das wohl das Letzte war, was sie von der Welt da draußen zu sehen bekamen. Die Straße führte zwar hinein, aber sie führte nicht für jeden wieder heraus. Ich werde da drin sterben, dachte er und wies den Gedanken sogleich von sich.
Hör auf mit dem Scheiß. Du wirst Roger finden und ihn zurückgeben. Soll Wu doch seine Blutprobe nehmen. Und dann spazierst du als freier Mann wieder raus.
Er erinnerte sich an Osbournes Video und wurde blass. Tausende revoltierende Leichen.
Natürlich – gar kein Problem.
Das Haupttor war verschlossen, was auch zu erwarten gewesen war. An den dicken Eisenstäben blühte tumorartiger orangefarbener Rost. Und die Mauer– die Mauer degradierte Marcos Barrikade zu einem kleinen Mäuerchen. Sie war beinahe fünf Meter hoch und wurde von rasiermesserscharfem NATO -Stacheldraht gekrönt. Sie war unüberwindlich, selbst wenn Wus Schulter unverletzt gewesen und Marcos Hände nicht von Brandwunden übersät gewesen wären.
Die Mauer erstreckte sich hundertfünfzig Meter in Richtung der untergehenden Sonne, knickte dann im rechten Winkel ab und schloss das Gefängnisgelände ein. Auf der anderen Seite erhob sich ein einschüchternder Wachturm. Er bestand aus eisernen Stelzen mit einer rechteckigen Plattform, auf die ein kastenförmiger Aufbau gesetzt war. Eine weiße Sirene hockte wie eine dicke Möwe auf dem Dach.
Und dann sah Marco plötzlich eine
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