Return Man: Roman (German Edition)
auf dieser Wahnsinnstour begleitet hatte…
…und dann rollte er an der Tür vorbei, und Wu war verschwunden.
Marco erhob sich mühsam und musste aufpassen, dass er nicht schon wieder ausrutschte, denn seine Stiefel waren glitschig durch das gerinnende Blut. Ungefähr drei Meter vor den vorrückenden Leichen erlangte er das Gleichgewicht zurück. Die Front der Aufständischen wälzte sich in seine Richtung und folgte dem sich bewegenden Ziel– frisches Fleisch, das sie erbeuten und verzehren wollten. Marco stellte grimmig fest, dass die Flut der Toten nun auch ins Labor schwappte. Leichen mit leerem Blick marschierten durch die Tür und schwärmten im Raum aus, in dem der wehrlose Wu lag.
Auf Wiedersehen, Wu.
Marco rannte keuchend weiter. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Körper war ein einziger Quell des Schmerzes. Er stolperte, stieß heftig mit der Schulter gegen eine Weißwandtafel und verschmierte dabei irgendwelche Zahlen, die mit schwarzem Stift darauf gekritzelt waren. Dann trat er wieder in die Mitte des Ganges und lief weiter.
Die Beine wurden mit jedem Schritt schwerer. Im Geiste zählte er die Sekunden, und alle Geräusche waren aus seinem Bewusstsein ausgeblendet, eine erwartungsvolle Stille, als wäre der Stift aus einer Handgranate gezogen worden.
Und dann erfolgte die Detonation– ein schrilles Kreischen, das einem durch Mark und Bein ging, ertönte im Labor und verfolgte ihn den Gang entlang. Eine Schockwelle, der er unmöglich davonzulaufen vermochte.
Auf Wiedersehen, Wu, sagte er sich wieder.
Er taumelte erschöpft vorwärts, ein Dutzend Leichen dicht auf den Fersen.
Er hatte keine Ahnung, wohin er überhaupt lief.
Doch er hoffte– betete–, dass dieser Korridor nicht wieder eine Sackgasse war.
12 . 8
Während das Leben aus ihm entwich, sah Wu Henry Marco verschwinden. Der Amerikaner stürzte sich kaltblütig vor den toten Mob, entging dem Ansturm nur um Haaresbreite und verschwand dann den Gang entlang. Er würde überleben oder anderswo im Gefängnis sterben. Er wird leben, dachte Wu. Er ist stark.
Starke Überlebensinstinkte. Seine Informationen waren richtig gewesen.
Als der Eingang des Labors von Leichen verdunkelt wurde und sie wie ein Exekutionskommando kamen, um ihn zu holen, lachte Wu laut auf. Die plötzliche warme Regung überraschte ihn– er hatte schon seit Monaten, vielleicht seit Jahren nicht mehr gelacht–, und er fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Diese gute Laune, die ihn so plötzlich überkommen hatte und die seine Angst besiegte. Und dann verstand er.
Bao Zhi …
Sein Onkel.
Bao Zhi, der es immer geschafft hatte, dass Wu sich als Junge vor Lachen auf dem Boden rollte. Bao Zhi, der Meister blöder Witze und beliebter Gutenachtgeschichten, die er im Kerzenschein erzählte, war hier – hier, aber unsichtbar. Als Geist, der Wu tröstend an der Hand nahm.
Ja. Bao Zhi. Wu spürte, dass sich die eisenharten Muskeln in seinen Armen entspannten. Die Sicht verschwamm; und er verspürte einen kühlen Hauch auf der Haut, als das Blut aus der Wunde im Nacken quoll wie Rauch aus einem Schornstein. Die Körperfunktionen wurden heruntergefahren, und sein Leib kühlte auf Raumtemperatur ab.
Tote Häftlinge schlurften durch die Tür, zwängten sich zu zweit oder zu dritt hindurch und stießen mit den Schultern aneinander. Ein Latino führte den Mob an. Sein Gesicht war halb gehäutet, und der Mund stand offen. Ein einziger Goldzahn glänzte in einer Höhle aus schwarzem Zahnfleisch und braunen Zahnstümpfen.
Schmerz wühlte in jeder Pore von Wus Haut, und er zwang sich, ihn zu akzeptieren– ihn zu einem Teil von sich zu machen, denn der Schmerz war alles, was er noch hatte, und wenn er ihn besaß, brauchte er ihn nicht zu fürchten. Schmerz. Er würde sterben. Er biss sich auf die Lippe, um ihn zu unterdrücken, und das schmerzte auch.
» Sh ū shu«, stöhnte er.
» Q ĭ ng li ū zài w ŏ sh ē nbi ā n.«
Bitte verlass mich nicht.
Er schaute auf. Über ihm nur ein Himmel aus grotesken Gesichtern und blutgierigen Leichen, die sich über ihn beugten. Sein Kopf war wie benebelt. Der Anblick des bevorstehenden Todes betäubte ihn. Als würde er in der Straße einer Stadt zu den Wolkenkratzern emporblicken. Wie Peking, sagte er sich und erinnerte sich, wie er die Stadt als neunzehn Jahre alter Soldat zum ersten Mal besucht hatte. Es war im Sommer nach der Jangtse-Flut gewesen, als er seine neue Stelle beim MSS antrat. Er hatte seine Kindheit
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