Revanche - Exposure
allen Ernstes, sie würde ihn bei ihrem Bébé lassen, während sie sich in der Kneipe einen zwitscherte? Um sich womöglich noch Mut anzutrinken? »Mir geht es nicht um Geselligkeit oder so, Cher«, versicherte sie ihm hastig. »Ich möchte nur ein bisschen frische Luft schnappen und ein paar Schritte laufen. Oder mich draußen auf dem Platz in die kleine Laube setzen.«
Als er sie wenig später von ihrem Zimmerfenster aus beobachtete, steuerte sie schnurstracks auf den Pavillon im Grünen zu. Sobald sie sich auf die Bank gesetzt hatte, war sein Blick auf ihre untere Körperhälfte beschränkt. Er sah, wie sie ein Bein auf die Bank hob und mit ihren langen Fingern ihr Schienbein massierte. Den anderen Fuß locker ausschüttelte.
Elvis wandte sich vom Fenster ab und schlenderte ziellos durch den Raum. Die gesunde Hand und die mit der Prothese lässig in die Gesäßtaschen gesteckt, inspizierte er das Reich von Emma Sands. Es sah alles so … feminin … aus. Für ihn fremd und exotisch anmutend, obwohl er, der Junge ohne Vater, doch selber in einem reinen Frauenhaushalt aufgewachsen war. Noch dazu bei einer Frau, die äußersten Wert auf ihre weiblichen Attribute legte. Nach einem kurzen Blick auf Kinder- und Damensachen steuerte er auf das Bett zu, wo er die schlummernde Kleine betrachtete. Ein Lächeln glitt über seine harten Züge.
Gott, war sie niedlich. Ein winziges Ding unter den weichen Decken, der zerwühlte Schopf auf das Kissen gebettet. Während er sie betrachtete, murmelte sie im Schlaf, streckte Ärmchen und Beinchen aus und rollte sich auf die Seite. Automatisch wanderte ein Daumen in den Mund. Mit gespitzten Lippen saugte sie mehrmals daran, bis sich ihr kleiner Körper wieder entspannte und der Daumen feucht glänzend auf das Kissen glitt. Elvis streckte seine Hand aus, streichelte mit einer rauen Fingerspitze über die rosig weiche Wange des Kindes. Abwesend glättete er das Laken und zog es fester um Gracies Schultern.
Was hatte ihre Mom damit gemeint? Wieso war sie bei
ihm sicher? Sie hatte das Wort regelrecht betont. Gab es womöglich jemanden, der das Kind bedrohte? Schon der Gedanke ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Er setzte sich in den Sessel neben der Stehlampe und versuchte zu lesen. Es war ein gutes Buch, und er hatte es regelrecht verschlungen, bevor Emma Sands bei ihm hereingeplatzt war.
Jetzt konnte er sich absolut nicht mehr konzentrieren.
Die Kleine mit den feuchten Küssen und ihre Mutter mit der Wahnsinnsfigur und einem Mund, dessen Süße er zu gern einmal kosten würde, wüteten wie ein Tornado durch sein bislang beschauliches Dasein. Er war auf die Insel zurückgekehrt, weil er seine Ruhe haben wollte, innere Ausgeglichenheit suchte. Auch wenn ihn die Bewohner von Port Flannery nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen hatten, kam er doch ganz gut mit ihnen aus. Sein Leben verlief ganz nach seinen Vorstellungen. In geregelten Bahnen. Ohne unliebsame Überraschungen.
Und wieso, sinnierte er skeptisch, hatte er plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass seine heilige Ruhe als Ordnungshüter in Port Flannery bedroht war?
Emma stützte ihr Kinn auf dem angezogenen Knie auf und spähte durch das grüne Laubengeflecht. Laut Kalender war erst am kommenden Abend Vollmond, trotzdem leuchtete er unbeschreiblich hell. Der Platz war in milchig weißes Licht getaucht, und sie entdeckte sogar eine winzige Münze, die im Gras neben dem Gehsteig schimmerte.
Sie zog die kühle, salzige Luft ein und atmete sie langsam wieder aus. Allmählich wich die Anspannung, und
sie konnte sich wieder besser konzentrieren. Ein paar Minuten Ausspannen tat richtig gut.
Sie sann über ihr weiteres Vorgehen nach. Am besten sie packte Gracie und ihre Siebensachen in den Wagen und dampfte morgen in aller Herrgottsfrühe wieder ab. Immer schön in Bewegung bleiben lautete die Devise.
Oui. Wenn sie Grants angeheuerten Spürhunden dauerhaft entwischen wollte, blieb ihr gar nichts anderes übrig. Obwohl, eigentlich hatte sie gar keine Lust, Flannery Island schon wieder zu verlassen.
War das nicht verrückt? Und total abwegig, wenn sie genauer darüber nachdachte. Zumal sie das pulsierende Leben in der Großstadt liebte, die flirrenden Neonreklamen, Geschäfte, die vierundzwanzig Stunden geöffnet hatten - auch wenn sie selbst nicht mehr das zwingende Bedürfnis hatte, dort mitten in der Nacht einzukaufen. Kleinstädte hatte sie bisher höchstens auf der Durchreise mit dem Auto kennen
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