Revelations
wiederholte Jiao, als Cassidy mit ihrer Geschichte am Ende war, und rieb sich dabei an einer beinahe unsichtbaren Schnittwunde auf ihrem rechten Oberarm. »Wir sind uns ein paar Mal begegnet.«
»Dann führt ihr also immer noch Krieg gegen die Sicarii?«, fragte Cassidy. Faith hatte ihr schließlich erzählt, dass es einen Waffenstillstand gab.
»Nein«, antwortete Jiao kopfschüttelnd. »Seit gut einem Jahr gibt es einen Friedensvertrag. Sie haben jede einzelne Schlacht verloren, aber wir verfügen nicht über endlose Vorräte an Kerosin und Munition. Mein Vater hat ihnen klargemacht, dass wir keinerlei Interesse an ihren Welteroberungsplänen haben, solange sie sich von uns fernhalten.«
»Aber warum habt ihr uns dann geholfen und sie angegriffen?«
»Die Schlucht gilt als Grenze zwischen deren selbsternanntem Imperium und uns. Jede Überschreitung ihrerseits bedeutet das Todesurteil für die Eindringlinge. Mein Vater vertritt die Auffassung, dass es besser ist, wenn sie uns fürchten, ohne zu wissen, was sie auf unserer Seite erwartet.«
»Wir waren doch noch nicht auf eurer Seite, oder?«
»Nein, allerdings haben die zuerst auf uns geschossen. Wahrscheinlich galten die Kugeln euch, aber das ist uns in so einem Fall egal. Die Sicarii wissen genau, dass jedwede Aggression entlang des Canyons mit Gewalt beantwortet wird. Aller Voraussicht nach trifft im Laufe des Tages einer ihrer Boten an der Schlucht ein, um sich für den Zwischenfall zu entschuldigen.«
»Jiao«, hallte Amys Computerstimme aus einem Lautsprecher neben dem Aquarium. »Zhang Yuen verlangt, dich in seinem Büro zu sehen.«
»Jaja, ich komm ja schon«, antwortete sie genervt. »Das ist mein Vater. Er ist hier der Boss und verhört gerade eure Anführerin. Hat diese Angel Ahnung von Diplomatie?«
»Ganz und gar nicht!«, entgegnete ihr Cassidy, die sich an den letzten Streit zwischen Angel und General Monroe erinnerte, bei dem sie ihm sein geliebtes Schachspiel vom Tisch gefegt hatte.
»Dann sollten wir uns das Spektakel nicht entgehen lassen!«, erwiderte Jiao. Sie stellte den Teller auf das Fensterbrett und führte Cassidy durch die klaustrophobischen Korridore und Verbindungstunnel zurück zum zentralen Turm mit dem gewaltigen Aufzug. Von dort aus ging es nach Norden in eine weitere Röhre bis in einen L-förmigen Komplex, vor dem ihnen zwei Wachen zunickten und sie passieren ließen.
Die obere Etage bestand aus einem großen Raum mit unzähligen Computerterminals und riesigen Bildschirmen an den Wänden, von denen einer defekt flimmerte. Drei Biosphärenbewohner saßen an den gläsernen Schalttafeln und tippten abwesend darauf herum. Zwei weitere standen an einem großen, beidseitig verwendbaren Glasbildschirm in der Mitte, wo sie mit einem Stift eine Art Einsatzplanung einzeichneten. Durch die geöffneten Stahlschotten an den Fenstern konnte man die goldbraune, morgendliche Gebirgslandschaft erkennen, zwischen der sich die Biosphäre versteckte. An den Berghängen glänzten hunderte von Solarzellen in unterschiedlichsten Größenordnungen, die von einem Trupp vollautomatischer Flugroboter per Luftgebläse gesäubert wurden, die sich mit Hilfe von vier kleinen Rotoren in der Luft hielten. Jiao hörte ihren Vater bereits durch die Tür seines Büros am anderen Ende der Kommandozentrale mit Angel streiten und wartete geduldig, bis sie an der Reihe war.
»... ist mir egal, wer ihr seid oder warum euch die Sicarii aus euren Hinterwäldlerdörfern gejagt haben! Ranger, Vultures ... das ist für mich alles dasselbe! Jiao hätte euch niemals hierher bringen dürfen, und sobald diese Sharon wieder aufgewacht ist, werdet ihr dahin zurückgebracht, wo sie euch gefunden hat!«
»Redet dich dein Dad immer mit dem Nachnamen an?«, fragte Cassidy verblüfft, als Jiao gerade die Augen aufgrund des Taktgefühls ihres Vaters gen Himmel rollen ließ. Sie starrte Cassidy einen Moment lang verwirrt an, bis sie verstand, worum es ging und affektartig lachen musste.
»Amy hat mal wieder geplaudert, hm? Bei uns Chinesen sagt man den Nachnamen zuerst. Jiao ist mein Vorname, Zhang der Familienname. Aber eigentlich brauchst du dir keins von beidem zu merken. Bis auf unseren pedantischen Computer und meinen Vater nennen mich alle Violet oder einfach Vi«, erklärte sie und wischte sich dabei zur Verdeutlichung ihre violette Haarsträhne aus dem Gesicht.
In diesem Moment öffnete sich die Doppeltür zu Yuens Büro mit einem dumpfen Zischen. Sie war weit
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