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Revolution - Erzählungen

Revolution - Erzählungen

Titel: Revolution - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Ejersbo
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Ärzte spricht Spanisch, sie haben eine schreiende dehydrierte Latina mittleren Alters. Sie blutet aus ungleichmäßigen Reihen kleiner Stichwunden, die sich um ihren Kopf, das Handgelenk und den Knöchel ziehen. Entzündeter Ausfluss, die Schorfränder sind erst kürzlich aufgebrochen.
    »Was ist Ihnen zugestoßen?«, frage ich sie auf Spanisch.
    »Mein Freund hat mich gekreuzigt«, antwortet sie. Ich sehe sie fragend an. Mit gepresster Stimme erklärt sie: »Mit Stacheldraht, im Bett unserer Wohnung. Und er hat mir Rattengift gespritzt.« Sie krümmt sich unter Magenkrämpfen zusammen, versucht, sich zu übergeben, aber es kommt nichts. »Ich sterbe«, sagt sie. »Ihr müsst mein Blut austauschen.«
    »Warum?«
    »Damit ich leben kann.«
    »Nein, warum hat er das getan?«
    »Er sagt, die Jungfrau Maria muss lernen, es wie ein Mann zu nehmen.«
    »Wie ein Mann?«
    »Mein Mann heißt Jesús«, sagt sie. »Ich soll mehr Geld verdienen.«
    »Wie können Sie Geld verdienen, wenn Sie gefesselt sind?«
    »Er wollte ein paar Männer holen.«
    »Wie lange ist das her?«, erkundige ich mich, während ich ihre dünnen Arme halte, die mit Hornhaut von alten Stichwunden übersät sind.
    »Zwei Tage. Meine Tochter hat mich gefunden.«
    »Ihre Tochter«, wiederhole ich, schlucke und wende meinen Blick ab. Meine Tochter starb vor drei Monaten bei der Geburt. »Und wann hat er Ihnen das Rattengift verabreicht?«
    »Vor zwei Tagen, es war zu wenig.«
    »Sie werden jetzt an einen Tropf mit Salz und Zucker gehängt«, erkläre ich ihr. »Und dann untersuchen wir Ihr Blut und teilen Ihnen mit, was wir gefunden haben. Eine Krankenschwester wird Ihre Wunden reinigen.«
    »Ist gut. Sind Sie aus Kuba?« So klingt mein Akzent.
    »Nein«, antworte ich. »Aus Tansania in Ostafrika, aber ich bin in Kuba auf der Universität gewesen.«
    »Sie sind keine Ärztin«, sagt sie mit einem Blick auf meinen Kittel.
    »Ich arbeite im Labor. Aber heute ist niemand da, der Spanisch spricht. Niemand außer mir.« In diesem Moment kommt ein Polizist, ein Latino.
    »Charo, was ist passiert?«
    »Jesús ist ein Teufel.«
    Ich spreche mit dem Arzt – teile ihm mit, was die Frau gesagt hat. Ich könnte dieser Arzt sein. Seit dreieinhalb Jahren bin ich in den USA und arbeite im Universitätskrankenhaus von Chicago als Laborantin, weil die Behörden meine medizinische Grundausbildung in Kuba nicht anerkennen. Wegen des amerikanischen Embargos gegen Kuba muss ich sämtliche Examina in den USA auf Englisch wiederholen. Zum Glück sind die medizinischen Termini lateinisch. Ich habe mit einem Laboranten-Examen begonnen, damit ich arbeiten und leben kann. Eine gewaltige Aufgabe, neben der Arbeit das gesamte Medizinstudium zu wiederholen, und die Examen waren teuer. Erst jetzt habe ich eine Stelle als Assistenzärztin in der Kinderabteilung bekommen, so dass ich mich spezialisieren kann. In vierzehn Tagen soll ich anfangen.
    Ich nehme den Fahrstuhl hinauf ins Labor. Wir unterstützen die Notaufnahme und den Operationstrakt. Die Blutanalyse ist weitgehend automatisiert. Ich schalte das Gerät ein und setze mich auf einen Stuhl. Todmüde. Ich habe mein Kind verloren. Das heißt, ich habe sie nicht verloren, ich habe sie geboren – erdrosselt von ihrer eigenen Nabelschnur. Ich brauche dringend eine Zigarette.
    Mein Arzt hat mir geraten abzunehmen. Das Fett sitzt um die Organe der Bauchhöhle und drückt auf alles, lässt keinen Platz. Jetzt schwitze ich jeden Abend zu Hause eine Stunde im Fernsehraum auf dem Stepper und dem Fahrradergometer, während ich meine Serien sehe. Habe ich zu lange gewartet? All die Zeit, die vergangen ist mit der Ausbildung und den neuen Examen in den USA , den Bewilligungen. Bin ich zu alt für Kinder? Oder bin ich nur vom amerikanischen Essen zu fett geworden? Ich bin Ärztin, ich müsste es besser wissen. Aber es ist schwierig. Ich bin nicht von hier. Ich war Tansanerin. Und jetzt schwebe ich im luftleeren Raum. Ich spreche Swahili, Französisch, Englisch, Spanisch, Latein. Das Blut meiner Familie findet sich überall auf der Welt.
    Die toxikologische Untersuchung des Bluts der Frau zeigt keinerlei Anzeichen von Rattengift. Nur viel zu wenig rote Blutkörperchen und Spuren von Heroin, Alkohol, Marihuana, Nikotin und Koffein – das Übliche. Ich stehe auf und räume den Tisch auf. Liefere die Blutresultate der Frau ab und übergebe an die Spätschicht, Fräulein Huáng, bevor ich zum Parkplatz gehe. Ich fahre Alberts Wagen, weil er einen

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