Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
ja?«
Schluchzen. Draußen dämmert es.
»Geht’s um Fernando?«
Ihr Weinen wird noch heftiger, und das werte ich als Zustimmung.
»Wo bist du?«, frage ich.
Tränen.
»Im Café?«
Nichts.
»Vor meiner Haustür?«
»Ja.« Ganz klein kommt das, minimal hörbar. Okay. Carla steht zu jeder Tages- und Nachtzeit vor meiner Haustür, wenn es ihr schlecht geht, unabhängig davon, ob ich eventuell zu Hause sein könnte oder nicht.
»Dann rühr dich nicht weg. Ich bin in fünf Minuten da, ja?«
»Ja.«
»Bis gleich«, sage ich.
»Leg nicht auf«, sagt sie, erstickt.
»In Ordnung«, sage ich, »aber je weniger ich rede, desto schneller kann ich laufen.«
»Okay«, sagt sie.
»Dann lauf ich jetzt mal los, und du bleibst einfach bei mir, ja?«
»Mhm«, sagt sie und gibt keinen Mucks mehr von sich, sie macht das sehr anständig, sie versucht sogar, ihr Weinen zu unterdrücken, während ich, so schnell ich kann, über Kreuzungen und Straßen renne. Ich will sie nicht eine Minute länger als nötig alleine lassen. Die vorsichtige Frühlingssonne des heutigen Tages ist noch nicht ganz weg, ein bisschen Licht gibt es noch, und ich renne wirklich wie verrückt. Bald kann ich Carla sehen. Sie hat einen viel zu großen grauen Mantel an, ich wette, sie hat nur ein dünnes Fähnchen drunter. Ihre langen dunklen Locken sind offen und wirr, ihre Schultern hängen in Richtung Erdmittelpunkt. Sie hat ihr Telefon am Ohr und kann mich vermutlich keuchen hören. Ich komme schnell näher, jetzt hebt sie ihr Gesicht, sieht mich an.
Ihre Augen sind komplett ohne Glanz, das kenne ich von ihr gar nicht, und ihre Wimperntusche hat sich in Flüssen über ihre Wangen ergossen. Da ist alles schwarz, und deshalb dauert es einen Moment, bis ich den blau schimmernden Fleck um ihr linkes Auge sehe. Ich fasse es nicht. Fernando, dieses Arschloch. Mir kommen die letzten Meter vor wie eine Ewigkeit, und als ich endlich bei ihr bin, bin ich so außer Atem, dass ich nicht sprechen kann. Wir schauen uns an und haben immer noch die Telefone am Ohr. Ihr schießen schon wieder die Tränen aus den Augen. Ich nehme ihr das Telefon ab und klappe es zu, dann klappe ich meines zu und nehme sie in den Arm. Sie zittert.
»Die Sau«, keuche ich, »der hat dich geschlagen.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Jetzt erzähl mir nicht, du wärst gegen die Heizung gefallen.«
»Nein«, sagt sie, macht sich von mir los. »Nein, ja, also, nein, so war das nicht.« Sie wischt sich mit dem Ärmel ihres Mantels übers Gesicht. Große Verschmierung.
»Können wir uns erst mal volllaufen lassen?«, fragt sie.
»Von mir aus«, sage ich. Wenn’s hilft.
Wir sind die ersten Gäste, und so können wir uns in aller Ruhe um Carlas Gesicht kümmern. Sie ist ohne alles aus dem Café gelaufen, hat nur ihr Telefon und nicht mal einen Schlüssel dabei, aber ihr Stammgast, der immer da ist und dem sie auch den Mantel geklaut hat, wird das schon regeln, er kennt sich aus und könnte den Laden zur Not sogar alleine schmeißen. Und er weiß, dass Carla hin und wieder austickt. Ich glaube ja, dass er heimlich in sie verliebt ist.
Sie sitzt vor mir, im durchsichtigen Kleid und mit nackten Füßen in kleinen Stilettos, den Mantel um die Schultern gelegt, aber sie zittert wenigstens nicht mehr. Die Bar ist klein und in weiches gelbes Licht getaucht, sie ist nicht weit weg von meiner Wohnung, und sie ist unser aller Liebling. Wenn man am Tresen sitzt, kann man den ganzen Abend auf einen alten, unspektakulären Platz schauen, der eine sehr versteckte Schönheit hat, die sich erst erschließt, wenn man ihn ein paar Wochen hintereinander angesehen hat. Man kann es nicht erklären. Man muss es gesehen haben, wie er die Leute willkommen heißt, die ihn überqueren, aber irgendwann kommt man drauf. Ich habe hier schon ganze Nächte damit verbracht, einfach nur den Platz anzusehen. Ich kenne ihn in- und auswendig, im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter.
Doch das Beste an der Bar ist definitiv der Barmann. Er hat indische Vorfahren, spricht aber mit einem schwäbischen Akzent, und in Wahrheit ist er Radrennfahrer. Ich halte ihn für den coolsten Barmann der Stadt, weil er scharfe kleine Cocktails in Schnapsgläsern mixen kann, weil er nur redet, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat und den Rest mit seinen Augen macht, und weil er so typisch ist. So wie der, so sind die Leute in Sankt Pauli. Cool bis zum Anschlag und mit ganz viel Herz. Die Theke, hinter der er steht, ist so klein,
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