Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
Pauli«, sage ich. »Und Sie?«
»Alemannia Aachen«, sagt er, »auch nicht immer einfach.«
Ich muss grinsen.
»Würden Sie mit mir zu Abend essen?«
Hupsi. Nein.
»Tut mir leid«, sage ich, »das geht nicht.«
»Warum?«
Ich weiß nicht, denke ich, du bist mir irgendwie unheimlich. Und ich will mich nicht verzetteln.
»Diät«, sage ich.
»Ich bitte Sie!«, sagt er. »Das nimmt Ihnen doch keiner ab. Bei Ihrer Figur.« Schleimer. »Aber wie wäre es dann mit einem Glas Wein?«
»Gern«, sage ich, »aber dann jetzt sofort.«
Er lächelt, schüttelt den Kopf, sagt »Sie sind aber ein harter Brocken« und bestellt zwei Gläser Chardonnay bei dem netten Stammgast, der den Laden exzellent schmeißt. Muss ich Carla sagen. Ich finde das wirklich süß von ihm.
»Wir sehen uns also nicht heute Abend«, sagt Zandvoort.
»Richtig«, sage ich.
»Wann sehen wir uns dann?«
»Montag Mittag bin ich vermutlich wieder hier.«
»Ich werde es einrichten«, sagt er.
Auf eine merkwürdige Art habe ich das Gefühl, dass er exakt in diesem Augenblick anfängt, mir zu nahe zu treten.
Ein Glas Wein und seine geradezu medizinische Wirkung: Mir geht es blendend, ich kann mich kaum noch an den schlimmen Kater von heute Morgen erinnern, und auch das tote Mädchen ist merkwürdig weit weg gerückt. Ich fühle mich fast so, als wäre ich ein normaler Mensch. Ich laufe die Landungsbrücken lang in Richtung Taxistand. Ich muss nach Eppendorf in die Pathologie, für einen langen Spaziergang bin ich ein bisschen spät dran, der Faller ist sicher schon unterwegs. Selbstverständlich habe ich keine besonders große Lust auf die Pathologie, aber muss ja. Vielleicht ist wenigstens meine neue Bekannte Betty Kirschtein da.
Am Wasser ist nicht viel los, und deshalb fällt mir der Junge sofort auf. Er sitzt auf einem dieser schweren, gegossenen Poller, um die man die Taue der liegenden Schiffe bindet. Er sieht aufs Wasser hinaus, er ist sehr dünn, seine Haut ist blass, und seine kurzen weichen Haare haben die Farbe eines Rehs. Er dreht den Kopf zu mir und sieht mich an. Rechts über seiner Oberlippe ist ein ziemlich großes Muttermal, das seinem Gesicht eine ganz besondere Eindeutigkeit gibt, eine harte Kontur in dem ansonsten zarten Schnitt.
Er muss durch das Klacken meiner Stiefel in seinen Gedanken gestört worden sein, aber er sieht nicht wieder weg, wie man das normalerweise machen würde. Er lässt seinen Blick, wo er ist, und sieht mir in die Augen, während ich näher komme. Als ich auf seiner Höhe bin, habe ich das Gefühl, dass ich nicht weitergehen kann. Ich bleibe stehen, weil ich muss. Ich stehe da direkt am Wasser und sehe diesen fremden jungen Mann an. Die Situation kommt mir sehr merkwürdig vor, ich sollte etwas sagen, um sie aufzulockern, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt, ich kriege keinen Ton raus, und sein Blick schiebt sich wie ein dunkler, kalter Finger unter meine Haut. Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser körperlosen Umklammerung verharren, die Zeit scheint komplett ausgeschaltet, und es tut weh, ein seltsamer Schmerz erfüllt mich, zieht mir die Eingeweide zusammen, ich bin mir nicht sicher, was das genau ist, aber es ist mächtig. Ich versuche nur, seinem Blick standzuhalten, ich habe das Gefühl, dass ich nicht wegsehen darf, dass wir beide in die Luft fliegen, wenn ich die Augen abwende. Sein Blick ist so düster, seine braunen Augen sind so tief und zugleich so leer, er sieht aus wie der leibhaftige Tod. Und ganz langsam wird es mir klarer, dieses kaum auszuhaltende Gefühl zwischen uns beiden. Je länger ich in die tiefe Grube seiner Augen sehe, desto mehr erscheint dort unten das, was es ist: unaussprechliches Leid. Ein bestialischer, heftiger Schmerz, so groß, dass er ansteckend ist.
Ich nehme all meine Kraft zusammen und bekomme tatsächlich die Zähne auseinander.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er zuckt, er schlägt die Augen nieder, er dreht den Kopf weg und sieht wieder das Wasser an und nicht mehr mich.
»Kann ich helfen?«, frage ich noch mal.
Eine Woge aus Mitleid schwappt über mich hinweg, es ist, als wäre die Elbe einmal über mich rübergegangen und hätte mich endgültig aus meiner Starre befreit. Ich trete einen Schritt näher an ihn heran. Es scheint alles so schrecklich für ihn zu sein.
»Geh weg«, sagt er so leise, dass ich es kaum hören kann. Seine Stimme ist brüchig wie ein altes Brot.
»Wie …«
»Geh weg!«, sagt er wieder, diesmal schon lauter, er schleudert es
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