Revolverherz: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
und ihre hübschen braunen Locken geschwenkt, und der Mann, der so gerne braune Locken sammelt, hat sie vielleicht gesehen und mitgenommen und …
Ich trete gegen die gläserne Tür, ich haue mit den Fäusten dagegen, ich bleibe mit der Stirn daran kleben und fühle, wie mir die Tränen hochsteigen. Nicht heulen jetzt. Verdammt noch mal nicht heulen. Ich bin keine, die heult.
Ich reiße mich zusammen und fange wieder an zu rennen, zwei Straßen weiter klingele ich Sturm an Carlas Wohnungstür. Auch hier: keiner da. Ich versuche, an meinem Schlüsselbund den verrosteten Schlüssel zu ihrer Wohnung zu finden, den sie mir mal gegeben hat, das hier, das muss er sein. Er passt.
Ich stürme die Treppen hoch und schließe ihre Wohnungstür auf, und sofort, als die Tür sich öffnet, weiß ich: Carla ist nicht da. In der Bude steht die Luft, es riecht so, wie es eben riecht, wenn seit Tagen nicht mehr gelüftet worden ist und überall Spitzengardinen hängen. In der Spüle steht eine Kaffeetasse mit einem Rand angetrocknetem Kaffee am Tassenboden, ansonsten ist alles picobello. Das Bett ist gemacht, es liegt nichts rum, nur im Wohnzimmer hängt ein gepunktetes Kleid über dem plüschigen alten Stuhl. Alles sieht aus, als wäre die, die hier wohnt, eben mal übers Wochenende ausgeflogen. Carla kann seit Donnerstagmorgen nicht mehr hier gewesen sein. Seit die Scheiße mit Fernando rausgekommen ist. Fernando, der Idiot. Vielleicht weiß der, wo sie steckt.
Ich schließe Carlas Wohnung zweimal ab, so wie ich es bei meiner immer mache, ich sage ihr dauernd, dass sie das auch machen soll, aber sie pfeift drauf.
Dann: runter, raus, schnelle Füße, Tempo machen. Fernando wohnt auf der anderen Seite von der Michaeliskirche, hinter dem großen Verlagshaus, einem architektonischen Verbrechen an der Menschlichkeit, einem Monstrum von Arbeitsplatz, das morgens die Menschen inhaliert und sie abends wieder ausspuckt, und dann sehen sie alle so aus, als hätte man ihnen im Laufe des Tages das Blut abgepumpt oder zumindest an ihrer Seele manipuliert, und wahrscheinlich stimmt das sogar.
Ich laufe über die Wiese unterhalb der Kirche, ich brauche fünf Minuten, bis ich bei Fernando bin. Er macht auf und steht ziemlich verdutzt im Türrahmen, hinter ihm in der Küche eine zierliche Frau in einem Morgenmantel. Die Frau ist unübersehbar schwanger.
»Komm raus«, sage ich.
»Willst du mich jetzt auch verprügeln?«, fragt er.
Das Veilchen an seinem linken Auge schimmert lila.
»Verdient hättest du’s«, sage ich.
Er funkelt mich feindselig an.
»Carla ist weg«, sage ich.
»Ach«, sagt er, »wird sie mal wieder dramatisch?«
»Ich werde gleich dramatisch«, sage ich und atme einmal ein und wieder aus. »Hast du eine Ahnung, wo sie stecken könnte? Hat sie sich bei dir gemeldet?«
»Du bist ganz schön außer Atem«, sagt er. »Willst du nicht erst mal reinkommen?«
»Wo ist Carla?!«
»Fauch mich nicht so an«, sagt er, »ich hab sie seit Donnerstag nicht mehr gesehen. Und wenn’s nach mir geht, bleibt das auch so.«
»Du bist ein Arschloch, Fernando«, sage ich, es tut sehr gut, das zu sagen, und bevor ich mich vergesse und ihm doch noch eine knalle, drehe ich auf dem Absatz um und mache, dass ich hier wegkomme.
Auf dem Weg in die Staatsanwaltschaft versuche ich irgendwie, mich zu beruhigen. Ich nehme den Weg über die Landungsbrücken. Vor der Cap San Diego bleibe ich eine Weile stehen, schaue an den Masten hoch und verspreche Carla im Geiste, eines Tages eine Seereise mit ihr zu machen, wenn sie wieder auftaucht. Auf genau so einem Schiff: groß, elegant, weiß-rot-maritim, schicke Scheiße.
Ich gehe weiter und zähle, das ist immer gut. Ich zähle Schiffe am Hafen, ich zähle Mülltonnen, ich zähle Touristen, ich zähle meine eigenen Schritte, ich zähle die Schnäpse, die ich an einem Abend weghauen kann, ich denke, dass ich zu viel trinke, ich besorge mir ein Fischbrötchen.
Das Fischbrötchen hilft ein bisschen gegen meine allerschlimmsten Gedanken und gegen den Schwindel in meinem Kopf, aber diese dumpfe Angst in meinem Bauch kann es dann doch nicht wegdrängen.
»Was ist denn mit Ihnen los, Chef?« Der Calabretta zieht die Augenbrauen zusammen. »Sie sehen aus wie ein alter Panettone. Sie sollten zum Arzt gehen.«
Stimmt. Und der kann dann mal nachschauen, ob mein Herz noch richtig tickt: Ich hab was mit meinem jungen Nachbarn, ich scheine gleichzeitig an einem im Grunde unsympathischen Schnösel
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