Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
»Welche Regeln meinen Sie denn, Hirz?«
»Machen Sie mir nichts vor, Doc. Sie haben mich sehr gut verstanden.«
Trintignant legte einen Finger unter die Kinnpartie seines Helms. »Ich muss gestehen, ich weiß es nicht. Es sei denn, Sie wollten unterstellen, der Turm hätte sich irgendwann bereit erklärt, sich bestimmten Einschränkungen zu unterwerfen, und das ist, wie ich mit allem Nachdruck erklären möchte, ganz gewiss nicht der Fall.«
»Nein«, sagte ich. »Hirz hat nicht ganz Unrecht. Es gibt Regeln. Fest steht zum Beispiel, der Turm duldet nicht, dass wir ihm physischen Schaden zufügen. Und er lässt uns keinen neuen Raum betreten, bevor wir alle im Raum davor versammelt sind. Ich finde, das sind sogar ziemlich fundamentale Gesetze.«
»Und wie ist die Sache mit der Drohne und der Tür zu verstehen?«, fragte Childe.
»So wie Trintignant sagte. Der Turm hat bisher zugelassen, dass wir die Regeln missachteten, aber wir hätten nicht davon ausgehen sollen, dass das immer so bleiben würde.«
Hirz nickte. »Großartig. Gibt es noch mehr, was er nur vorläufig zulässt?«
»Ich weiß es nicht.« Ich rang mir ein verkniffenes Lächeln ab. »Wir müssen einfach weitermachen, dann werden wir schon sehen.«
Wir durchquerten acht weitere Räume. Für jede Aufgabe brauchten wir ein bis zwei Stunden. Einige Male hatten wir diskutiert, ob wir weitermachen sollten. Hirz war im Allgemeinen am wenigsten dafür zu begeistern, aber bisher waren die Schwierigkeiten nicht unüberwindlich gewesen. Und irgendwie kamen wir ja auch voran. Die Räume waren meistens leer, aber hin und wieder gab es ein schmales, vergittertes Fenster mit bunten Scheiben aus einem Material, das offensichtlich widerstandsfähiger war als Glas oder sogar Diamant. Manchmal gingen diese Fenster nur auf düstere Innenräume, aber einmal konnten wir auch nach draußen sehen und bekamen ein Gefühl für die Höhe, die wir erreicht hatten. Forqueray hatte unseren Weg mit Trägheitskompass und Gravitationsscanner überwacht und bestätigte, dass wir seit dem ersten Raum mindestens fünfzehn Höhenmeter zurückgelegt hatten. Das klang beeindruckend, aber nur so lange, bis man sich klar machte, dass noch mehrere hundert Meter Turm über uns lagen. Etliche hundert Räume, jeder mit einer Aufgabe, die noch anspruchsvoller war als die vorhergehende?
Und die Türen wurden eindeutig kleiner.
Schon jetzt vermochten wir uns nur noch mit Mühe hindurchzuzwängen. Die Anzüge waren zwar imstande, in gewissem Rahmen ihre Form zu verändern, aber sie konnten sich nicht unbegrenzt komprimieren.
Bis hierher hatten wir sechzehn Stunden gebraucht. Wenn wir in diesem Tempo weitermachten, würden wir viele Tage brauchen, um auch nur in die Nähe der Spitze zu gelangen.
Aber keiner von uns hatte sich der Illusion hingegeben, dass die Sache schnell erledigt wäre.
»Knifflig«, sagte Celestine, nachdem sie das letzte Rätsel etliche Minuten lang studiert hatte. »Ich glaube zu sehen, worum es geht, aber …«
Childe sah sie an. »Glauben Sie nur, oder wissen Sie es?«
»Ich meine, was ich sage. Es ist nicht einfach. Vielleicht sollte lieber jemand anderer den ersten Versuch machen?«
Ich legte ihr die Hand auf den Arm und sagte auf der Privatfrequenz: »Immer mit der Ruhe. Er ist nur nervös, das ist alles.«
Sie schüttelte meine Hand ab. »Ich habe dich nicht gebeten, mich zu verteidigen, Richard.«
»Entschuldige. Ich wollte nicht …«
»Schon gut.« Celestine schaltete auf Gemeinschaftsfrequenz um und wandte sich an alle. »Ich halte diese Markierungen für Schatten. Sehen Sie.«
Inzwischen beherrschten wir alle das Verfahren, mit den Visualisierungssystemen unserer Anzüge Figuren zu zeichnen. Die virtuellen Skizzen konnten auf jede Oberfläche projiziert werden und waren dann für alle sichtbar.
Celeste, die das am schnellsten konnte, warf einen kurzen roten Strich an die Wand.
»Sehen Sie? Eine eindimensionale Linie. Und jetzt passen Sie auf.« Sie spaltete die Linie in zwei parallele Segmente und verband die Enden – nun hatte sie ein Quadrat. Das rotierte sie, bis es auf der Kante stand. Wieder konnten wir nur eine Linie sehen.
»So weit klar …«, sagte Childe.
»Man kann eine Linie als eindimensionalen Schatten eines zweidimensionalen Objekts betrachten. Verstanden?«
»Im Wesentlichen ja«, sagte Trintignant.
Celestine ließ das Quadrat stillstehen, dann verschob sie es diagonal und ließ eine Kopie zurück, mit der das Ursprungsquadrat
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