Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
sicher. Ich muss noch einmal darüber nachdenken.«
»Schön. Lassen Sie sich Zeit.«
Celestine versank in Gedanken. Minuten vergingen, eine Viertel-, dann eine halbe Stunde. Ein paarmal öffnete sie den Mund, holte Atem und setzte schon zum Sprechen an, ein paarmal machte sie einen Schritt auf die Tür zu, der Hoffnungen weckte, aber nichts von alledem war Vorbote des plötzlichen intuitiven Durchbruchs, auf den wir alle hofften. Jedes Mal machte sie den Mund wieder zu und blieb stehen. Die Zeit verging; eine Stunde, dann fast schon zwei.
Und dabei, dachte ich, hatte noch nicht einmal Celestine die Lösung erkannt.
Wenn wir alle ihrer Beweisführung folgen sollten, konnten Tage vergehen.
Endlich sagte sie: »Ja, jetzt ist es mir klar.«
Childe antwortete als Erster. »Ist es die Lösung, an die Sie ursprünglich dachten?«
»Nein.«
»Na großartig«, sagte Hirz.
»Celestine …«, begann ich, um die Gemüter zu beruhigen. »Weißt du, warum du ursprünglich falsch entschieden hattest?«
»Ja. Ich denke schon. Es war ein Trick; eine scheinbar korrekte Lösung, die einen versteckten Fehler enthielt. Und die scheinbar offensichtlich falsche Lösung stellte sich schließlich als die richtige heraus.«
»Gut. Und du bist dir ganz sicher?«
»Ich bin mir überhaupt nicht sicher, Richard. Ich glaube nur, dass dies die Lösung sein muss.«
Ich nickte. »Mehr kann man vernünftigerweise nicht erwarten. Hältst du es für möglich, dass wir anderen deiner Beweisführung folgen können?«
»Ich weiß es nicht. Wie gut kennst du dich mit Kaluza-Klein-Räumen aus?«
»Nicht allzu gut, wie ich zugeben muss.«
»Das habe ich befürchtet. Einigen von euch könnte ich meinen Gedankengang wahrscheinlich erklären, aber einer wäre immer dabei, der ihn nicht begreift …« Celestine sah Hirz vielsagend an. »Wir könnten wochenlang in diesem verdammten Raum stehen, bevor wir alle die Lösung verstanden hätten. Und so lange gibt uns der Turm womöglich nicht Zeit.«
»Das wissen wir nicht«, warnte ich.
»Nein«, sagte Childe. »Andererseits können wir es uns auch nicht leisten, jedes Mal wochenlang herumzugrübeln. Früher oder später mussten wir zwangsläufig an einen Punkt kommen, an dem wir uns nur noch auf Celestines Urteil verlassen konnten. Und ich denke, jetzt ist es so weit.«
Ich sah ihn an. Er war mir mathematisch immer überlegen gewesen. Vor den Aufgaben, die ich ihm stellte, hatte er nur selten kapituliert, auch wenn er mit seinem überaus systematischen Denken oft Wochen gebraucht hatte, um der Lösung auf die Spur zu kommen. Umgekehrt hatte er oft mich geschlagen, wenn er mich mit einem komplexen mathematischen Rätsel ähnlich dem konfrontierte, mit dem Celestine jetzt kämpfte. Die beiden waren einander als Mathematiker nicht völlig ebenbürtig, aber es bestand auch kein himmelweiter Unterschied zwischen ihren Fähigkeiten. Nur löste Celestine dank ihrer Aufrüstung durch die Musterschieber jede Aufgabe mit der schier übermenschlichen Geschwindigkeit eines Genies.
»Heißt das, ich soll einfach drücken, ohne dass wir uns auf die Lösung geeinigt hätten?«, fragte Celestine.
Childe nickte. »Vorausgesetzt, alle anderen stimmen zu …«
Die Entscheidung war nicht einfach, schon gar nicht, nachdem wir so viele Räume erst nach einer so rigoros demokratischen Abstimmung durchquert hatten. Doch alle sahen ein, dass sie vernünftig war, sogar Hirz ließ sich letzten Endes überzeugen.
»Aber eines steht fest«, sagte sie. »Sobald wir diese Tür hinter uns haben, verschwinde ich, Geld hin oder her.«
»Sie wollen aufgeben?«, fragte Childe.
»Sie haben gesehen, was mit den armen Teufeln da draußen passiert ist. Die dachten sicher auch, sie könnten immer noch eine Aufgabe mehr lösen.«
Childe machte ein enttäuschtes Gesicht, doch er sagte: »Ich kann Sie gut verstehen. Aber Sie werden Ihre Haltung doch noch einmal überdenken, wenn wir durch sind?«
»Tut mir Leid, aber mein Entschluss steht fest. Ich habe ein für alle Mal die Nase voll.« Hirz wandte sich an Celestine. »Bitte erlösen Sie uns aus unserem Elend. Treffen Sie die Wahl.«
Celestine sah uns der Reihe nach an. »Sind alle damit einverstanden?«
»Das sind wir«, antwortete Childe im Namen der Gruppe. »Nur zu.«
Celestine drückte auf das Symbol. Wie üblich folgte ein Augenblick höchster Spannung, der sich quälend in die Länge zog. Alle starrten auf die Tür und wünschten sich inständig, sie möge beiseite
Weitere Kostenlose Bücher