Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
was die Drohne erkennen könnte, aber das hat leider nicht viel zu bedeuten.«
»Diesmal gehe ich voraus«, sagte Celestine. »Und niemand folgt mir, bevor ich mir nicht die Aufgabe angesehen habe, verstanden?«
»Nichts dagegen«, sagte Hirz und schaute sich nach dem Fluchtweg um.
Celestine trat über die Schwelle ins Dunkel.
Ich stellte fest, dass ich genug davon hatte, alle anderen so zu sehen, als trügen sie keine Anzüge – sie kamen mir plötzlich viel zu verwundbar vor –, und befahl meinem Anzug, diese Modifikation meines Blickfeldes beenden. Der Übergang war fließend; die Anzüge wuchsen um die Gestalten herum wie Auren, die sich verdichteten. Nur die Helmpartien blieben halb durchsichtig, sodass ich immer noch jeden ohne störende visuelle Hilfen identifizieren konnte.
»Wieder ein mathematisches Rätsel«, sagte Celestine. »Und immer noch ziemlich einfach. Noch werden wir nicht wirklich gefordert.«
»Wogegen ich auch überhaupt nichts einzuwenden habe«, erklärte Hirz.
Childe schien nicht weiter beeindruckt. »Sie sind sich der Lösung sicher?«
»Sie können mir vertrauen«, sagte Celestine. »Treten Sie ein, es besteht keine Gefahr.«
Diesmal waren die Markierungen komplexer, und ich fürchtete zunächst, Celestine hätte sich überschätzt.
An der linken Türseite zog sich – bis ganz nach oben – ein senkrechter Streifen mit vielen, gleich weit voneinander entfernten horizontalen Rillen hin, einem Lineal ähnlich. Doch einige dieser sauber gefrästen Rillen waren etwas tiefer. Auf der anderen Seite der Tür befand sich ein ähnliches Lineal, nur waren dort die tieferen Rillen anders angeordnet und nicht auf der gleichen Höhe wie rechts.
Ich sah mir den Türrahmen etliche Sekunden lang unverwandt an, schaltete im Geiste um auf den Problemlösungsmodus, der mir einmal so selbstverständlich gewesen war, und hoffte, es würde ›Klick‹ machen, und ich sähe die Lösung. Aber das Rillenmuster wollte sich einfach nicht in ein mathematisches System fügen.
Ich sah Childe von der Seite an. Doch auch in seinen Augen leuchtete keine Erkenntnis auf.
»Siehst du es nicht?«, fragte Celestine.
»Nicht ganz«, gab ich zu.
»Es sind neunundneunzig Rillen, Richard«, sagte sie im Tonfall eines Lehrers, der mit einem begriffsstutzigen Schüler spricht und mit seiner Geduld fast am Ende ist. »Von unten nach oben gezählt, sind folgende Rillen tiefer als die anderen: die dritte, die sechste, die zehnte, die fünfzehnte … soll ich fortfahren?«
»Ich bitte darum«, sagte Childe.
»Es gibt noch sieben weitere tiefe Rillen, die letzte ist die einundneunzigste. Jetzt müsste es aber wirklich klar sein. Denkt geometrisch.«
»Das tue ich doch«, sagte ich ärgerlich.
»Nun sagen Sie schon, Celestine«, stieß Childe zähneknirschend hervor.
Sie seufzte. »Es sind trianguläre Zahlen.«
»Schön«, sagte Childe. »Leider weiß ich nicht so genau, was eine trianguläre Zahl ist.«
Celestine schaute zur Decke, als flehte sie um Erleuchtung. »Passen Sie auf. Sie können sich doch einen Punkt vorstellen?«
»Ich bin schon dabei«, sagte Childe.
»Nun umgeben sie den Punkt mit sechs anderen, die alle gleich weit voneinander entfernt sind. Haben Sie das?«
»Ja.«
»Und jetzt machen Sie so weiter, nach allen Richtungen, so weit Ihre Vorstellungskraft reicht – jeder Punkt hat immer noch sechs Nachbarn.«
»Noch kann ich folgen.«
»Jetzt müsste so etwas wie ein chinesisches Schachbrett entstanden sein. Konzentrieren Sie sich als Nächstes wieder auf einen einzelnen Punkt unweit der Mitte. Ziehen Sie von da aus eine Linie zu einem der sechs Nachbarpunkte und eine weitere Linie zu einem der beiden Punkte zu beiden Seiten des eben gewählten Nachbarn. Jetzt verbinden Sie die beiden Nachbarpunkte. Was bekommen Sie?«
»Ein gleichseitiges Dreieck.«
»Richtig. Damit haben wir drei Punkte. Nun stellen Sie sich vor, die Seiten des Dreiecks wären doppelt so lang. Wie viele Punkte sind jetzt miteinander verbunden?«
Childe zögerte nur einen Augenblick. »Sechs, glaube ich.«
»Richtig.« Celestine wandte sich an mich. »Bist du so weit mitgekommen, Richard?«
»Einigermaßen …« Ich musste mich anstrengen, um die Formen im Kopf zu behalten.
»Dann machen wir weiter. Wenn wir die Größe des Dreiecks verdreifachen, verbinden wir neun Punkte an den Seiten und dazu einen Punkt in der Mitte. Das macht zehn. Weiter – bei einem Dreieck von vierfacher Größe – sind wir bei fünfzehn.«
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