Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
hätte etwas mit dem Schiff zu tun, dann werden solche Erscheinungen heute Nacht bestimmt zu hunderten gesichtet.«
»Ich dachte nur, es würde uns von der Nachricht ablenken.«
»Das mag sein. Aber wir würden unser Ziel zu spät erreichen und hätten keine Entschuldigung dafür.« Mina mäßigte ihren Ton und bemühte sich, möglichst sachlich zu sprechen. »Hör zu, ich kann verstehen, dass du neugierig bist. Mir geht es nicht anders. Aber alles spricht dafür, dass es sich entweder um einen Zufall oder um einen Teil eines globalen Phänomens handelt, das alle anderen viel besser studieren können. In beiden Fällen könnten wir keinen sinnvollen Beitrag leisten, und deshalb sollten wir das Ganze lieber vergessen.« Sie rieb sich die Flecken auf ihrem Unterarm und fuhr mit dem Finger die leuchtend bunten Spiralen und Zickzacklinien nach. »Außerdem bin ich müde, und wir haben in den nächsten Tagen viel zu tun. Am besten buchen wir die Beobachtung als Erfahrung ab. Einverstanden?«
»Meinetwegen«, sagte Naqi.
»Tut mir Leid, aber wir würden einfach nur unsere Zeit vergeuden.«
»Ich sagte meinetwegen.« Naqi zog sich an dem Geländer, das über die ganze Länge des Luftschiffrückens führte, zum Stehen hoch.
»Wo willst du hin?«
»Ich lege mich aufs Ohr. Du sagst ja selbst, wir haben morgen viel zu tun. Wir wären schön dumm, einem Zufall hinterher zu jagen.«
Eine Stunde nach Tagesanbruch hatten sie die tote Zone überflogen. Das Meer füllte sich mit schwimmenden Lebewesen, das Wasser wurde sämig wie eine dicke Suppe. Etwa einen Kilometer weiter zeigten sich die ersten ominösen Anzeichen einer Struktur. Das blaugrüne Gewirr aus klebrigen Fäden und großen seetangähnlichen Feldern erinnerte an die halbverdauten Eingeweide stachliger Meeresungeheuer.
Noch ein Kilometer, und die Schwimmpflanzen hatten sich zu einem festen Floss verdichtet, das durchdringend nach Salz und verfaultem Kohl roch.
Und nach einem weiteren Kilometer war das Floß so dick geworden, dass das Meer nur noch da und dort durch eine Lücke zu sehen war. Darüber war die Luft heiß und feucht und gesättigt mit mikroskopisch kleinen Reizstoffen. Das Floß selbst befand sich unter dem Einfluss streng begrenzter Strömungen in ständiger Bewegung, es hob und senkte sich, schaukelte und drehte sich wie in einem koketten Tanz. Von oben sah es aus, als rührten viele unsichtbare Löffel in einer großen Schüssel püriertem Spinat. Selbst der Schatten des Luftschiffs, durch die tief stehende Sonne nach vorne hin weit verlängert, wirkte sich in gewisser Weise auf die Bewegungsabläufe aus, denn die Biomasse der Musterschieber drehte und wand sich, um ihm auszuweichen. Die Aktionen wirkten auffallend gezielt. Naqi musste an den Oktopus im terrestrischen Aquarium auf Umingmaktok denken, der sich in seinem gläsernen Gefängnis durch unglaublich schmale Lücken zwängte.
Endlich schwebten sie genau über dem Zentrum. Das Floss breitete sich nach allen Seiten aus wie ein riesiger Teller mit einem weit entfernten Rand aus glitzerndem Meerwasser. Ihr Luftschiff schien über einer uralten Insel zu stehen, die so fest gegründet war wie ein geologisches Wahrzeichen. Die klebrige, vielschichtige Biomasse hatte sogar so etwas wie eine Geographie: man konnte Berge, Höhenzüge und Täler erkennen. Aber auf Türkis gab es besonders in diesen Breiten nur wenige Inseln, und dieser Schieberknoten war erst wenige Tage alt. Satelliten hatten vor einer Woche entdeckt, wie er sich bildete, und daraufhin waren Mina und Naqi ausgeschickt worden, um ihn zu beobachten. Sie hatten strenge Anweisung, lediglich über der Insel zu schweben und an langen Leinen einige Sensoren hinabzulassen. Sollte der Knoten irgendwelche Auffälligkeiten zeigen, dann wollte man von Umingmaktok mit einem Schnellen Luftschiff ein Team losschicken, das mehr Erfahrung besaß. Die meisten Knoten lösten sich innerhalb von zwanzig bis dreißig Tagen auf, Eile war also immer geboten. Vielleicht entsandte man sogar ausgebildete Schwimmer, die es kaum erwarten könnten, sich ins Meer zu stürzen und den Aliens ihr Bewusstsein zu öffnen. Den Ozean zu sichten, wie sie es nannten.
Aber alles zu seiner Zeit: vermutlich war dieser Knoten zwar interessant, aber nicht außergewöhnlich.
»Guten Morgen«, sagte Mina, als Naqi zu ihr trat. Sie reinigte gerade mit einem Tupfer die Sensorkapsel, die sie vor einiger Zeit eingeholt hatten, und sammelte den grünen Schaum, der sich an die
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