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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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für genau die gleiche Stelle beworben hatte wie sie selbst. Mina würde sie nur der Heuchelei bezichtigen … Aber das war es ja nicht allein. Naqi hatte sich nie so offen gegen das Seemauer-Projekt gestellt wie ihre Schwester. Mina dagegen hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sowohl das Projekt wie die Persönlichkeiten, die dahinter standen, in aller Deutlichkeit zu kritisieren.
    Und das war nun wirklich Heuchelei.
    »Hast du die Routine zusammengebastelt?«
    »Bin gleich fertig«, sagte Naqi.
    »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
    »Nein.« Naqi rang sich ein Lächeln ab. »Nein. Ich wühle mich nur durch die Details. In ein paar Minuten bin ich so weit.«
    »Gut. Ich kann es kaum erwarten, mit der Suche anzufangen. Wir werden wunderschöne Daten sammeln, Schwesterherz. Und ich bin ganz sicher, das ist ein wichtiger Knoten. Vielleicht der größte in dieser Saison. Bist du nicht froh, dass man gerade uns damit betraut hat?«
    »Ich bin hingerissen«, sagte Naqi und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
    Dreißig Telemetriekabel mit Spezialsonden hingen von der Unterseite der Gondel wie die giftzellenbewehrten Fangarme einer Qualle. Die Sonden prüften die Luft mehrere Meter über der Schieberbiomasse oder glitten dicht über der flaumiggrünen Oberfläche dahin. Senklote durchdrangen das Floß und nahmen Proben von dem Wasser, das noch Dutzende von Metern darunter mit Organismen durchsetzt war. Mit Radar wurden größere Strukturen innerhalb des Knotens sichtbar gemacht – harte Kerne verdichteter Biomasse oder große Höhlungen und Röhren, deren Zweck man nicht kannte –, während das Sonar die Topologie der vielen organischen Sehnen abbildete, die wie Nabelschnüre in die Tiefe hinabreichten und den Knoten am Meeresboden verankerten. Kleinere Knoten bezogen ihre Energie hauptsächlich von der Sonne und der Aufspaltung von Zucker und aus dem Fett in anderen schwimmenden Mikroorganismen, aber die größeren Formationen, die ganz andere Informationsmengen zu verarbeiten hatten, mussten aktive vulkanische Spalten auf dem Meeresgrund viele Kilometer unterhalb der Oberfläche anzapfen. Mit peristaltischen Kompressionswellen wurde durch jede Nabelschnur kaltes Wasser nach unten gepumpt, zirkulierte durch die superheiße Thermik über dem Unterwasservulkan und wurde erhitzt wieder nach oben befördert.
    Bei all dieser Erkundungsaktivität wurde der großflächige Organismus erstaunlich wenig beschädigt. Die Biomasse spürte, wenn sich die Sonden näherten, und bildete sich so um, dass selbst die Lote, die an dünnen Leinen ins Wasser eintauchten, kaum auf Widerstand trafen. Natürlich kosteten diese Maßnahmen zur Schadensvermeidung Energie, die folglich bei der Informationsverarbeitung fehlte. Man konnte jedoch davon ausgehen, dass die Verluste gering waren, und da der Knoten seine Architektur ohnehin – zum Teil gezielt und zum Teil wahrscheinlich bedingt durch andere Umweltfaktoren – laufend veränderte, hatte es wenig Sinn, sich wegen der Eingriffe der menschlichen Forscher den Kopf zu zerbrechen. Letztlich war man immer noch weithin auf Spekulationen angewiesen. Die Schwimmerteams hatten zwar vieles über die Informationsverschlüsselung der Musterschieber herausgefunden, doch fast alles andere – wie und warum sie Neuralmuster speicherten und in welchem Ausmaß diese Muster anschließend weiterverarbeitet wurden – war unerforscht. Und das waren nur die oberflächlichen Fragen. Darunter begannen die echten Rätsel, die jedermann gerne lösen wollte, die aber die Wissenschaft auf ihrem derzeitigen Stand einfach überforderten. Es war nicht zu erwarten, dass sie heute etwas in Erfahrung bringen würden, das neues Licht in diese Tiefen würfe. Mit einem einzelnen Messwert – selbst mit sämtlichen Ergebnissen einer Einzelmessung – ließ sich gewöhnlich nichts beweisen oder widerlegen, allerdings konnten solche Daten später eine wichtige Rolle in einer Beweiskette spielen, auch wenn es nur darum ginge, eine statistische Verteilung auf eine bestimmte Hypothese hin zu interpretieren. Die Wissenschaft wurde, das hatte Naqi längst erkannt, in gleichem Maße von einem unübersichtlichen Miteinander sozialer Prozesse bestimmt wie von den elektrisierenden Erfolgen einzelner Entdecker.
    Und sie war stolz darauf, ein Teil dieses Systems zu sein.
    Die Spiralsuche ging ohne besondere Zwischenfälle vonstatten. Das Luftschiff zog gemächlich immer größere Kreise über der Insel. Der Vormittag ging über in den

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