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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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seinen Kurs so anpasste, dass es die Jetstreams und die Wetterfronten bestmöglich ausnützte. Im Moment schwebte es auf der Stelle: ein oder zweimal pro Minute sprangen mit leisem Schnarren die Elektrotriebwerke an, um es trotz der Böen im Mikroklima über dem Schieberknoten stabil zu halten. Naqi griff auf das aktive Avionikprogramm zu, auf dem Flachbildschirm erschien ein Menü mit verschiedenen Optionen. Die Zeilen flimmerten; Naqi versetzte dem Schirm einige Schläge mit dem Handrücken, um ihn zur Räson zu bringen. Dann scrollte sie sich durch alle Flugsequenzen, fand aber in der aktuellen Konfiguration keine vorprogrammierte Spirale. Als Nächstes durchsuchte sie die Hintergrunddateien, kam aber auch damit nicht weiter. Sie wollte schon anfangen, selbst etwas zusammenzubasteln – wenn es darauf ankam, konnte sie in einer halben Stunde eine Routine schreiben –, als ihr einfiel, dass sie etliche alte Avionik-Files auf dem Fächer gesichert hatte. Sie konnte nicht sagen, ob sie noch vorhanden waren, oder ob überhaupt etwas Brauchbares darunter war, aber zumindest lohnte es sich wohl, dort nachzusehen. Der Fächer lag zusammengeklappt auf einem Arbeitstisch. Mina musste ihn dort abgelegt haben, nachdem sie festgestellt hatte, dass der Blackout immer noch anhielt.
    Naqi zog den Fächer auseinander und legte ihn sich auf den Schoß. Dabei sah sie überrascht, dass er noch eingeschaltet war: das Display zeigte nicht das Hintergrundbild, sondern die Nachrichten, die sie in der Nacht zuvor abgerufen hatte.
    Doch bei genauerem Hinsehen runzelte sie die Stirn. Das war gar nicht ihre Post, das waren die Mails, die sich Mina nach ihr auf den Fächer kopiert hatte. Sofort meldete sich Naqis Gewissen: sie sollte den Fächer zuklappen oder wenigstens ihre Schwester als Benutzer abmelden und auf ihre eigene Partition überwechseln. Aber sie tat weder das eine, noch das andere, sondern erklärte ihrem Gewissen, das sei ganz normal und jeder andere würde ebenso handeln. Dann öffnete sie die letzte Nachricht auf der Liste und sah sich die Eingangszeit an. Sie war mit einem Abstand von wenigen Minuten fast zur gleichen Zeit eingetroffen wie die letzte Mail, die sie selbst erhalten hatte.
    Mina hatte Recht. Die Nachrichtensperre bestand immer noch.
    Naqi hob den Kopf. Vor dem Fenster der Gondel bewegte sich der Hinterkopf ihrer Schwester auf und ab. Sie kontrollierte die Winden an der Seite.
    Naqi überflog den Text. Nichts Besonderes, nur ein automatisches Rundschreiben von einer der Fachgruppen für Schieberstudien. Es ging um die Chemie von Neurotransmittern.
    Sie schloss das Rundschreiben und kehrte zum Posteingang zurück. Bisher hatte sie nichts getan, dessen sie sich schämen müsste, versicherte sie sich. Wenn sie Minas Postfach jetzt verließ, hatte sie keinen Anlass, sich Vorwürfe zu machen.
    Doch dann sprang ihr aus der Liste ein bekannter Name entgegen: Dr. Jotah Sivaraksa, Leiter des Seemauer-Projekts. Der Mann, den sie, nach seinem jährlichen Wurmwechsel vor neuer Lebenskraft strotzend, in Umingmaktok kennen gelernt hatte. Was hatte Mina wohl mit Sivaraksa zu tun?
    Sie öffnete die Nachricht und las.
    Es war genau, wie sie befürchtet hatte, sie hatte es nur nicht glauben wollen.
    Sivaraksa antwortete auf Minas Bewerbung um eine Stelle an seinem Projekt. Der Ton war freundlich und vertraulich, ganz anders als in dem sachlichen Schreiben, das Naqi erhalten hatte. Sivaraksa teilte ihrer Schwester mit, ihre Bewerbung sei positiv aufgenommen worden. Zwar wolle man sich noch ein oder zwei andere Kandidaten ansehen, doch bislang hätte sie, Mina, sich als die überzeugendste Bewerberin erwiesen. Und, so fuhr er fort, selbst wenn sie diesmal nicht zum Zuge käme – womit kaum zu rechnen sei –, so stünde ihr Name für künftig frei werdende Positionen ganz oben auf der Liste. Kurzum, sie könne so gut wie sicher davon ausgehen, noch in diesem Jahr an der Seemauer mitzuarbeiten.
    Naqi las die Nachricht noch einmal. Vielleicht war ihr ja eine winzige Kleinigkeit entgangen, die das Ganze in ein anderes, freundlicheres Licht rückte.
    Dann klappte sie den Fächer zu und legte ihn wieder genauso hin, wie sie ihn gefunden hatte. Innerlich kochte sie vor Wut.
    Mina steckte den Kopf durch den luftdichten Vorhang.
    »Wie kommst du voran?«
    »Gut«, sagte Naqi. Ihre Stimme klang wie tot, sie hörte es selbst. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Sie konnte sich nicht einmal darüber beklagen, dass ihre Schwester sich

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