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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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intelligenten Wesen gehalten. Der Fehler war verständlich, aber die Wahrheit sah doch ganz anders aus. Die bewegten Formen waren nichts anderes als ein Lockmittel, ähnlich wie der bunte Schutzumschlag eines Buches. Die dazugehörigen Bewusstseine waren nur als erstarrte Signaturen eingefangen. Die einzige lebende Intelligenz in diesem Ozean war sein eigenes Ordnungssystem.
    Alles andere wäre Ketzerei gewesen.
    Der Tanz der Körper beschleunigte sich so sehr, dass sie ihm nicht mehr zu folgen vermochte. Im Innern des grünen Gebildes flackerten und blinkten pastellfarbene Lichter wie Laternen in den Tiefen eines Waldes. Der Rand der Lagune war nicht länger glatt und regelmäßig. Landzungen schoben sich auf die Mitte des schrumpfenden Wasserkreises zu, zugleich bildeten sich schmale Buchten und Spalten, die tief in die große Masse des Knotens hineinreichten. Die Landzungen fuhren Fangarme aus, die sich, am Ansatz schenkeldick, immer weiter verjüngten, um sich schließlich, beim Umfang von Pflanzenstielen angelangt, zu farnartigen Spitzenmustern zu verzweigen, unendlich feinen Gittern, die im Licht schillerten wie Libellenflügel. Hin und wieder schoss ein Sprite -oder ein kleineres, aber ebenso helles Objekt – von Ufer zu Ufer. Hellere Schemen glitten durch das Wasser wie neugierige Fische. Mikroorganismen lösten sich von den größeren Wedeln und Stängeln und sammelten sich zu Schwärmen, die zielstrebig gegen ihre Haut, ihre Augenlider anbrandeten. Bei jedem Atemzug musste sie husten. Die Musterschieber schmeckten sauer, wie Medizin. Jetzt waren sie in ihr und eroberten ihren Körper.
    Panik erfasste sie, als hätte sich in ihrem Bewusstsein ein winziger Schalter umgelegt. Alle anderen Überlegungen waren vergessen. Sie musste diese Lagune sofort verlassen, Mina mochte von ihr denken, was sie wollte.
    Mehr um sich schlagend als schwimmend strebte Naqi dem Floß zu, doch mit der Panik hatte noch etwas von ihr Besitz ergriffen. Es war weniger eine Lähmung als ein gewaltiges Gefühl der Trägheit. Jede Bewegung, jeder Atemzug kostete Überwindung. Das Boot schien unerreichbar. Sie konnte nicht mehr Wasser treten. Sie war zu schwer. Sie sah an sich hinab und stellte fest, dass ein grüner Schleier die Teile ihres Körpers umhüllte, die über Wasser waren. Die Organismen hatten sich an ihren Tauchanzug geheftet.
    »Mina …«, rief sie. »Mina!«
    Aber Mina sah sie nur an. Naqi ahnte, dass ihre Schwester von der gleichen Lähmung befallen war. Minas Bewegungen waren matt geworden; doch in ihren Zügen stand keine Panik, nur tiefe Resignation. Eine Schicksalsergebenheit, die bedenklich nahe an heitere Gelassenheit grenzte.
    Mina fürchtete sich nicht.
    Die Muster an ihrem Hals leuchteten grell. Jetzt hatte sie die Augen geschlossen. Die Organismen hatten bereits das Gewebe ihres Anzugs angegriffen und lösten ihn ab. Naqi spürte, wie mit ihrem Anzug das Gleiche passierte. Schmerzen hatte sie nicht, die Organismen machten an ihrer Haut Halt. Sie nahm alle Kräfte zusammen, hob den Unterarm aus dem Wasser und betrachtete das Nebeneinander von hellem Fleisch und aufgelöstem schwarzem Gewebe. Ihre Finger waren steif wie Eisen.
    Aber – eine Tatsache, an die sich Naqi nun klammerte – der Ozean wusste, dass Organismen, zumindest denkende Organismen unantastbar waren. Wer mit den Schiebern schwamm, erlebte oft die seltsamsten Dinge, Zustände, die von Tod oder Beinahe-Tod schwer zu unterscheiden waren. Aber die Schwimmer tauchten immer wieder auf, verändert vielleicht, aber im Grunde unversehrt. Was immer jetzt mit ihnen geschah, sie würden überleben. Die Schieber gaben alle zurück, die mit ihnen schwammen, und auch die Veränderungen, die sie an ihnen vornahmen, waren nur selten von Dauer.
    Einige kehrten allerdings nicht zurück.
    Nein, ermahnte sich Naqi. Was sie da taten, war töricht, es mochte sie die Karriere kosten, aber sicher nicht das Leben. Mina hatte sich beim Schwimmercorps beworben, und dabei hatte sich herausgestellt, dass sie einen hohen Konformalitätsindex hatte, aber deshalb war sie nicht zwangsläufig in Gefahr. Konformal zu sein bedeutete nur, eine besonders starke Verbindung zum Ozean zu haben. Das Wort hatte einen gewissen Zauber.
    Jetzt ging Mina unter. Sie bewegte sich überhaupt nicht mehr. Ihre Augen starrten verzückt ins Leere.
    Naqi wollte sich wehren, sie wollte sich nicht ergeben, aber alle Kraft hatte sie verlassen. Auch sie begann zu sinken. Das Wasser stieg ihr über den

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