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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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können wir so genau nicht wissen. Unsere eigenen Wahrnehmungen sind nicht unbedingt zuverlässig. Ich kann nicht einmal sicher sein, ob wir dieses Gespräch wirklich führen. Vielleicht rede ich mit mir selbst …
    Mina … Sag doch nicht solche Sachen. Du machst mir Angst.
    Ich fühle mich hier auch nicht sicher. Aber ich werde mich von einer einzigen Bedrohung nicht unnötig einschüchtern lassen.
    In diesem Augenblick veränderte sich etwas. Naqi hatte das Gefühl, als hätte der Ozean seinen Griff deutlich gelockert. Mina und das Tosen der vielen anderen Bewusstseine wurden leiser und entfernten sich. Naqi kam es vor, als hätte sie eine lärmende Party verlassen, wäre in einen stillen Nebenraum getreten und ginge nun auch von der Tür weg.
    Ein Kribbeln am ganzen Körper. Sie spürte die tödliche Lähmung nicht mehr. Über ihr flimmerte es perlgrau. Sie stieg zur Oberfläche empor, ohne genau zu wissen, ob sie selbst etwas dazu tat. Damit entfernte sie sich von Mina, aber im Moment zählte nur eines: sie wollte dieses Meer verlassen. Sie wollte so weit wie möglich weg von diesem dissonanten Bewusstsein.
    Sie durchstieß mit dem Kopf eine grüne Schicht und war wieder in der Luft. Im gleichen Augenblick ließen die Schieberorganismen von ihr ab und flüchteten hektisch zurück ins Meer. Sie schlug mit steifen Gliedern um sich und atmete in tiefen, gierigen Zügen. Der Übergang war grausam, aber er dauerte nur wenige Sekunden. Sie sah sich um, darauf gefasst, noch immer von den schroffen Lagunenwänden eingeschlossen zu sein, aber in einer Richtung war nur offenes Meer. Wieder drohte die Panik übermächtig zu werden. Mit einem Beinschlag drehte sie sich und sah, vielleicht einen halben Kilometer von ihrem derzeitigen Standort entfernt, eine wellenförmige, flaschengrüne Linie, vermutlich die Grenze des Knotens. Das Luftschiff schien direkt auf seiner Oberfläche zu sitzen wie eine silberne Träne.
    Ihre Angst war so groß, dass sie nicht gleich an Mina dachte. Sie wollte nur das Luftschiff erreichen, sich in Sicherheit bringen, in die Lüfte steigen. Dann sah sie ein- bis zweihundert Meter entfernt das Floß auf den Wellen schaukeln. Irgendwie war es ebenfalls ins freie Wasser geraten. Nun war es zwar weit weg, aber nicht unerreichbar. Naqi schwamm darauf zu. Die Angst gab ihr Kraft und stärkte ihren Willen. Tatsächlich hatte sie den Bereich des Knotens noch längst nicht verlassen: das Wasser war durchsetzt von schwebenden Mikroorganismen, sie schwamm wie durch eine kalte grüne Suppe. Jeder Zug war mühsam, aber dafür konnte sie sich ohne große Anstrengung über Wasser halten.
    War sie so sicher, dass ihr die Musterschieber nichts zuleide tun würden? Vielleicht. Schließlich war sie nicht ihnen begegnet – falls sie überhaupt ein Bewusstsein hatten. Sie waren nur das Archivierungssystem. Sie waren für dieses eine verdorbene Bewusstsein ebenso wenig verantwortlich zu machen wie eine Bibliothek für ein abscheuliches Buch.
    Dennoch hatte dieses Bewusstsein sie tief erschüttert. Warum hatte eigentlich keiner der anderen Schwimmer je von einer solchen Begegnung erzählt? Sie selbst erinnerte sich schließlich auch jetzt noch genau daran, obwohl sie den Ozean schon beinahe verlassen hatte. Vielleicht würde sie bald alles vergessen – neurologische Nachwirkungen würden sicherlich nicht ausbleiben –, aber unter anderen Umständen hätte sie nichts daran hindern können, ihre Erlebnisse einem Zeugen zu berichten oder sie von einem objektiven Erfassungssystem aufzeichnen zu lassen.
    Sie schwamm weiter. Allmählich müsste doch auch Mina wieder auftauchen. Ihre Schwester war nicht weniger verängstigt gewesen, aber ihre Neugier war stärker, und sie war eher bereit, ihre Angst zu unterdrücken. Naqi hatte den Ozean sofort verlassen, als die Schieber ihren Griff lockerten. Wenn Mina nun beschlossen hätte, noch zu bleiben?
    Wenn sie noch da unten wäre und weiter mit den Schiebern kommunizierte?
    Naqi hatte das Floß erreicht und zog sich vorsichtig hinauf, damit es nicht kenterte. Sie sah, dass es im Großen und Ganzen noch intakt war. Jemand hatte es von der Stelle bewegt, aber nicht beschädigt. Die Keramikhülle war von der Fäule angegriffen, hier und dort wucherte grüner Schorf, aber ein paar Stunden würde sie sicherlich noch halten. Die fäulefesten Steuerungssysteme waren aktiv und standen nach wie vor in telemetrischer Verbindung mit dem fernen Luftschiff.
    Naqi war nackt aus dem Meer

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