Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
Mund, dann über die Augen, und schließlich schlug es über ihr zusammen. Sie fühlte sich wie eine Statue, die ins Meer gestürzt war und nun auf den Grund sank. Ihre Angst stieg und stieg, dann war der Höhepunkt überschritten. Sie ertrank nicht. Der Schaum aus grünen Organismen hatte sich durch ihre Kehle und in ihre Nasengänge gezwängt. Sie fürchtete sich nicht mehr. Sie empfand gar nichts bis auf die tiefe Überzeugung, nur dazu und zu nichts anderem geboren zu sein.
Naqi wusste, was geschah, was geschehen musste. Sie hatte genügend Berichte über Schwimmermissionen gelesen. Die winzigen Organismen durchdrangen ihren ganzen Körper, sie krochen in ihre Lungen, in ihren Blutkreislauf. Sie erhielten sie am Leben und überfluteten sie zugleich mit Glücksdrogen. Scharenweise suchten sich die Winzlinge einen Weg in ihr Gehirn, sie schoben sich am Sehnerv, am Hörnerv entlang oder überwanden gar die Blut-Hirn-Schranke. Dabei zogen sie dünne Fäden hinter sich her, feine Fasern, die zurückreichten zu den Organismen, die um sie herum im Wasser schwammen. Die legten ihrerseits Datenleitungen zur Primärmasse des Knotens … Und dieser Knoten stand chemisch und über die Paketboten-Sprites in Verbindung mit anderen Knoten. Durch diese grünen Fäden wurde Naqi in den Ozean integriert. Es mochte Stunden dauern, bis ein Signal von der anderen Seite von Türkis ihr Bewusstsein erreichte, aber das spielte keine Rolle. Sie begann, in Schieberzeiträumen zu denken, ihre eigenen Denkprozesse erschienen ihr von sinnloser Hektik geprägt wie das Gewimmel in einem Bienenstock.
Sie wurde größer und größer.
Sie war nicht länger ein helles, scharf umrissenes Ding mit Namen Naqi, das wie ein sterbender Seestern in der Lagune schwebte. Ihr Ichbewusstsein raste nach allen Richtungen dem Horizont zu, umfasste zuerst den Knoten und dann das offene Meer ringsum. Sie konnte nicht genau sagen, wie diese Information zu ihr gelangte. Nicht durch visuelle Bilder, eher durch ein unendlich detailliertes Raumbewusstsein. Dieses Raumbewusstsein schien plötzlich ihr wichtigstes Sinnesorgan geworden zu sein.
Vermutlich war es das, was die Schwimmer meinten, wenn sie vom Sichten sprachen.
Sie sichtete andere Knoten hinter dem Horizont. Chemische Signale überschwemmten ihr Gehirn, jedes Signal war einmalig und von einem verwirrenden Informationsreichtum. Es war wie ein Aufschrei aus hundert Menschenmengen. Und zugleich sichtete sie die Tiefen des Ozeans, die kalten Wassermassen unterhalb des Knotens, die Leben spendende Wärme, die aus den Spalten in der Kruste drang. Und noch viel näher sichtete sie Mina. Sie waren wie zwei Nachbargalaxien in einem Meer von Fremdheit. Minas Gedanken verströmten in dieses Meer und in Naqis Bewusstsein, und Naqi spürte darin das Echo ihrer eigenen Gedanken, die Mina zuvor aufgefangen hatte …
Es war grandios.
Ihre beiden Bewusstseine umkreisten und sichteten einander. Für einen Moment herrschte eine Vertrautheit, wie keiner sie für möglich gehalten hätte.
Mina … kannst du mich spüren?
Ich bin hier, Naqi. Ist es nicht wandervoll?
Die Angst war restlos verschwunden. An ihre Stelle war ein erhabenes Gefühl der Immanenz getreten. Naqi wusste, sie hatten richtig entschieden. Sie hatte recht daran getan, Mina zu folgen. Mina war überglücklich und sonnte sich ebenfalls in dieser verheißungsvollen, hoffnungsfrohen Geborgenheit.
Doch dann spürten sie die anderen.
Nichts hatte sich verändert, doch mit einem Mal wurde klar, dass sich die ohrenbetäubenden Signale von den anderen Knoten aus zahllosen Einzelstimmen zusammensetzten, zahllosen Einzelströmen chemischer Information. Jeder Strom war die Aufzeichnung eines Bewusstseins, das irgendwann einmal in den Ozean eingegangen war. Die ältesten – die aus der fernen Vergangenheit – waren die schwächsten, aber auch die zahlreichsten. Sie klangen inzwischen sehr ähnlich, die gespeicherten Persönlichkeiten verschwammen miteinander, so unterschiedlich – so fremd – sie ursprünglich auch gewesen sein mochten. Die Bewusstseine, die erst in letzter Zeit assimiliert worden waren, erschienen schärfer und bunter wie ungewöhnlich geformte Kiesel an einem Strand. Naqi sichtete brutale Fremdheit, barocke Geistesgebäude, geformt von außerirdischen Evolutionsketten. Die einzige Gemeinsamkeit war, dass sie eine bestimmte Schwelle von Intelligenz erreicht hatten, die mit dem Gebrauch von Werkzeugen einherging, und dass sie alle – aus
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