Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 2 (German Edition)
in seinem Kopf.
Rhavîn erstarrte äußerlich zu Stein und zerfloss im Geist wie heißes Eisen. Einerseits wollte er sich windend aus der Pein erlösen, da sie schier unerträglich war. Auf der anderen Seite wünschte er sich, noch inniger mit der finsteren Macht seines Fürsten verschmelzen zu dürfen.
Die Wirklichkeit um ihn herum schwand, obwohl er mit weit aufgerissenen Augen dalag.
Auriel spürte ein letztes Mal den Druck von Rhavîns Fingern in ihrer Hand. Dann schloss er die Augen, sein Körper verlor jegliche Spannung.
„Nein!“ Auriels entsetzter Schrei schallte weit aus der Thing-Halle hinaus. „Rhavîn! Nein!“
Rhavîn versank in Dunkelheit. Die kühlen Arme der Finsternis umfingen ihn, hoben ihn sachte durch Schatten und Schwärze. Dass Auriel ihm ihre Liebe schwor, vernahm Rhavîn lediglich schwach, wie aus einer anderen Welt. Sein letzter Gedanke galt Nymion.
Die Novizin brach weinend über Rhavîns totem Körper zusammen.
Die Zeit verging quälend langsam und dennoch rann sie wie Sand durch Auriels Finger. Es mochten Stunden vergangen sein oder lediglich einige Augenblicke. Auriel konnte nicht zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, als plötzlich jemand ihre Schulter berührte.
„Verzeiht, junge Frau ...“, sprach eine weiche Stimme an ihrem Ohr. Die Hexerin blickte auf. Vor sich sah sie das bärtige Gesicht des Jarls der Nordmarken.
Auriel entgegnete nichts, das Antlitz des Mannes verschwamm vor ihren Augen. Doch sie spürte, dass er ihr wohlgesonnen war, fühlte Wärme und Geborgenheit von ihm ausgehen.
„Ich helfe Euch.“ Grímmaldur hielt ihr die rechte Hand entgegen.
Dankbar ergriff Auriel die Hand des kräftigen Mannes und ließ sich von ihm helfen, aufzustehen. Sanft legte sie Rhavîns Kopf zu Boden, sein langes Haar glitt durch ihre Finger, ein betäubendes Stechen bohrte sich in ihre Brust.
Jarl Grímmaldur legte einen Arm um Auriels Schultern und stützte sie, als sie neben ihm zum Stehen kam. Er fühlte, wie sie zitterte, spürte die Zerbrechlichkeit der jungen Frau.
Auriel blickte zurück, ihr wurde schlecht. Für einen Moment streifte ihr Blick den blutigen Dolch. Die Hexerin schlug die Hände vor das Gesicht. Erneut begann sie zu weinen.
„Folgt mir!“, hörte sie die tiefe Stimme des Herrn von Dragelund sagen. Schweigend ließ sich Auriel von Grímmaldur durch die Thing-Halle geleiten. Entsetzliche Schuldgefühle zermarterten ihren Kopf, in ihrer Brust klebte ein schier unerträgliches Gefühl aus Leere und endlosem Schmerz. Während sie langsam durch die Gänge des großen Gebäudes geleitet wurde, sah Auriel vor ihrem geistigen Auge Bilder von Rhavîn. Sie erinnerte sich an sein kühles Lächeln, seine faszinierenden Augen und seine außergewöhnliche Ausstrahlung.
Dann sah sie sich selbst, wie sie Rhavîns Attentat erkannt hatte. Sie sah sich wieder und wieder den Dolch in die Höhe reißen, hörte sich auf ihren Geliebten zustürmen. Unaufhörlich hörte sie das Geräusch, das sie vernommen hatte, als sie ihre Klinge in Rhavîns Rücken gestoßen hatte. Auriel sah Rhavîn zu Boden gehen, spürte den blutigen Dolch durch ihre Finger gleiten. Sie hörte sein ersticktes Röcheln, fühlte, wie sich sein Blut warm über ihre Finger ergoss.
Plötzlich öffnete sich ein Tor vor der Hexerin. Gleißend helles Sonnenlicht traf auf ihr Gesicht.
Auriel blickte sich verwirrt um, blinzelnd schirmte sie ihre Hände vor dem hellen Licht ab. Es drängte sie, zurück in die Thing-Halle zu laufen. Sie wollte nicht von Rhavîn fortgeführt werden, sondern bei ihm bleiben, neben ihm einschlafen und niemals wieder erwachen.
„Folgt mir, ich bitte Euch!“, befahl eine rührend weiche Stimme an ihrer Seite.
Auriel nickte wie betäubt. Sie wurde, von mehreren Männern begleitet, in ein anderes Langhaus geführt. Die Hexerin bemerkte nicht, wie sie hineinging, sah nicht den Reichtum innerhalb der Mauern und roch nicht die warme Suppe, die duftend über einem offenen Kamin köchelte. Die junge Frau spürte nicht die frische Kühle des Raumes, in den sie gebracht wurde, und bemerkte auch nicht, dass es in diesem Gemach stockfinster war.
Vor ihrem geistigen Auge immerzu den Schrecken sehend, der in ihrem Inneren tobte, ließ sie sich widerstandslos in eines der weichen Betten legen, die in diesem Raum standen. Eingewickelt in mehrere Decken und bewacht von zwei fürsorglichen Frauen fiel Auriel sofort in tiefen, traumlosen Schlaf.
Chroniken des Jarls der Nordmarken:
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