Rhavîn – Gesang der schwarzen Seele 2 (German Edition)
forderte Renia ihren Schützling auf. „Viele Menschen möchten dir danken. Und ich bin mir sicher, dass der Rat der Ältesten viele Fragen an dich richten möchte.“
„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“ Die Zauberin seufzte, ließ sich aber widerstandslos zur Tür geleiten. Sie ahnte, dass sie nur den Bruchteil der Trauer erlebte, die Rhavîn bei Nymions Tod hatte durchleben müssen Auriel fragte sich, wie Rhavîn es vermocht hatte, seine Mission trotzdem fortzusetzen. Die Erinnerung an den Schmerz des Sícyr´Glýnħ trieb der Hexerin erneut Tränen in die Augen.
„Ich stehe dir bei, Auriel, mach dir keine Sorgen. Und was dir zu viel ist, werde ich von dir fernhalten. Als Heldin Dragelunds bist du eine der am höchsten gestellten Frauen hier. Es soll dir an nichts fehlen. Ab heute bist du außerdem dem persönlichen Schutz des Jarls unterstellt.“
Auriel nickte zögerlich. Renias Worte prasselten wie Hagelkörner auf sie ein. Sie hatte das Gefühl, in einem Traum zu sein. Oben und unten, Wachsein und Schlafen verschwammen in ihrem Geist zu einer betäubenden Masse. Auf Renias Aufforderung hin verließ sie hinter ihr das Schlafgemach des Jarls. Das weiße Kleid raschelte kühl um ihre Beine, die Bänder in ihrem Haar kitzelten auf ihrem Rücken. Doch Auriel nahm all diese Eindrücke kaum wahr, ihre Sinne waren betäubt, wie zugefroren.
Renia führte ihren Gast durch einen langen, geraden Gang, von dem aus zu beiden Seiten einige Türen und viele durch Vorhänge und Felle verdeckte Durchgänge abführten. Gerade vor den beiden lag die hohe Eingangstür aus schwerem Holz, die Renia ohne innezuhalten öffnete.
Unmittelbar vor dem Haus erstreckten sich weitläufige, von Gräsern und Kräutern bewachsene Hügel. In weiter Ferne verschmolzen die Anhöhen mit einem dichten, urtümlichen Wald. Das Langhaus des Jarls stand erhaben auf einer Anhöhe.
Den beiden Frauen bot sich ein beeindruckender Blick über Dragelund. Das Dorf lag im warmen Schein der Herbstsonne freundlich und einladend da. Einige Häuser an den äußeren Grenzen schmiegten sich in die weichen, grünen Hügel. Die Bauten im Dorfkern dagegen waren entlang einiger Lehmwege und Knüppeldämme erbaut worden. Der Fluss, der das Dorf beinah in der Mitte trennte, schimmerte glitzernd im Schein der Sonne. Der Wind, der mit sanften Fingern über die Landschaft strich, kräuselte die silberne Wasseroberfläche, trieb Schaumkronen vor sich her.
Dragelund war ein großes Dorf. Es verfügte sowohl über einen Palisadenwall, der die Siedlung fast vollständig umringte, sowie über mehrere Wachtürme. Diese Verteidigungsanlagen waren Auriel am Vortag gar nicht aufgefallen. Nun jedoch war sie glücklich, dass sie dort waren – der Palisadenring verlieh ihr ein Gefühl der Sicherheit. Sie spürte tiefe Angst in ihrem Inneren schmoren. Obwohl sie wusste, dass ihre Furcht nicht von den Menschen Dragelunds ausging, und dass sie von Dutzenden Kriegern umgeben war, fühlte sie sich unbehaglich. Als würde sie beobachtet, sah die junge Frau in jedem Schatten einen Feind. Jede plötzliche Bewegung ließ sie zusammenschrecken.
„Komm, Auriel. Mein Bruder erwartet dich auf dem Marktplatz.“ Renia wies zwischen den Häusern hindurch zu einem größeren, freien Platz, auf dem sich eine Menschenmenge versammelt hatte. Gleichzeitig schritt sie zügig den Hügel hinab, bis sie einen schmalen Pfad aus hölzernen Planken erreichte, der, von Runenpfählen gesäumt, bis in den Kern von Dragelund führte. Auriel folgte der Frau. Ein nervöses Drücken in ihrem Magen riet ihr, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen. Ihr Kopf allerdings versicherte, dass sie alles richtig machte, wenn sie Renia vertraute und weiterhin dem Weg folgte, auf dem sie seit dem gestrigen Tag wandelte.
Es ist das Schicksal, das mich lenkt , versuchte sie, sich zu beruhigen. Ich muss ihm folgen, wie ich es bereits seit Tagen tue. Erst wenn ich meine Aufgabe vollendet habe, bin ich frei. Erst dann kann ich zu einem neuen Leben aufbrechen. Vielleicht sogar hier in Dragelund ...
Nach einigen Hundert Schritten erreichten Renia und Auriel den Marktplatz Dragelunds. Viele Langhäuser umstanden den Platz und mannigfaltige Geschäfte hatten sich hier angesiedelt. Neben einem Schmied, einem Barbier und einem Lederer waren auch ein Sattler, ein Grobschmied, ein Waffenschmied und ein Rüstungsmacher vorhanden. Gleichfalls bemerkte Auriel ein Badehaus und zwei Gaststätten, die ihr Angebot auf eisernen
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