Rheines Gold
den toten Vogel ergriff, wusste nicht so recht etwas damit anzufangen. Derartige Tätigkeiten waren von ihr noch nie im Leben verlangt worden. So waren es schließlich die Männer, die kopfschüttelnd die Tiere rupften und für den Spieß vorbereiteten.
Das gebratene Fleisch war zäh und ungewürzt, aber es stillte ihren Hunger. Rufinas Kopfschmerzen, die von dem Schlag herrührten, waren inzwischen erträglich geworden, und allmählich keimte eine Idee in ihr auf. Sorgfältig beobachtete sie die Männer. Thorolf und Holdger waren schwerfällige Gestalten, nicht nur von Bewegung und Körperbau, sondern auch von Geist. Aswin hingegen schien mehr zu verstehen, als er vorgab, und verfolgte sie mit aufmerksamen Blicken. Vor ihm würde sie sich zu hüten haben. Erkmar machte einen gutmütigen Eindruck. Er schien sogar Gefallen an ihr gefunden zu haben und richtete ihr eigenhändig ein Lager aus trockenem Laub, auf dem sie ruhen konnte. Er blieb allerdings in ihrer Nähe sitzen, und da sie am lichten Tag nicht schlafen konnte, versuchte sie ein Gespräch mit ihm zu führen. Sie hatte von Eghild und den anderen Bediensteten in der Therme einige Brocken der einheimischen Sprache aufgeschnappt, etwa so viele, wie der Germane an römischen Ausdrücken kannte. Sie vermied es jedoch, ihm Fragen zu stellen, die er sowieso nicht beantworten würde, und so blieb es bei Belanglosigkeiten, die die Pflanzen des Waldes und die Tiere betrafen. Entzückt aber war Rufina, als es Erkmar gelang, ein rotes Eichhörnchen mit ein paar Getreidekörnern herbeizulocken. Das possierliche Tierchen blieb zwar in vorsichtiger Entfernung sitzen, nahm die Körner aber in seine Pfötchen und knabberte vergnügt daran. Dabei wölbte sich sein buschiger Schweif anmutig über seinem Kopf, und die schwarzen Äuglein glitzerten unbekümmert zu ihnen hin. Dann verschwand es mit den wellenartigen Sprüngen seiner Art wieder auf seinem Baum.
»Raratoskr, auf Yggdrasil. Wir kennen Weltenbaum. Du auch?«
Rufina verneinte, und Erkmar strich mit einem Lächeln über Rufinas rote Haare.
»Wie Eichhörnchen, Kleine!«
»Wie eine Füchsin, hat mein Mann gesagt.«
»Ja, auch das. Aber Füchse gefährlich. Du nur niedlich.«
Schön, dachte Rufina. Glaub das nur. Sie lächelte den hünenhaften Germanen mit großer Süße an.
Gegen Abend erreichten sie eine weitere Hütte. Doch diesmal diente ihnen ein Verschlag voll Stroh und dem strengen Geruch nach Ziegen als Unterkunft. Später brachte Erkmar ihnen Gerstenbrei und gebratenes Wildbret, dazu einen Krug mit Wasser. Der Verschlag aber wurde verriegelt, und Licht drang nur durch die Ritzen zwischen den rohen Brettern herein, als sie sich auf den Decken niederließen. Sabina hatte inzwischen ihre Verzweiflung einigermaßen überwunden und nährte die Hoffnung auf eine baldige Befreiung. Rufina teilte diese Hoffnung jedoch nicht. Die Dinge würden Zeit brauchen, denn wenn es eine Lösegeldforderung gab, würde sie erst ausgesprochen werden, wenn sie weit genug von der Colonia entfernt waren, um ein einfaches Aufspüren unmöglich zu machen. Dann würde es Verhandlungen geben, die sicher ebenfalls ihre Zeit kosten würden. Aber sie behielt ihre Überlegungen für sich und sagte nichts, was Sabinas Vorstellung erschüttern konnte. Es war besser, sie glaubte, Maenius Claudus würde schon am nächsten Tag mit vollen Geldbeuteln herbeipreschen, um sie auszulösen. Sie selbst hatte einen anderen Plan. Denn ob auch sie im Preis mit inbegriffen war, schien ihr fraglich. Wer könnte für sie schon Lösegeld aufbringen? Solange es noch hell war, versuchte sie, so viel wie möglich von der Umgebung zu erspähen. Einige Astlöcher halfen ihr, ein paar Spalten und morsche Stellen gaben den Blick auf die Umgebung frei. Auch auf den Weg in den Wald, den sie gekommen waren. Soweit sie erkennen konnte, befand sich die Hütte auf einer kleinen Lichtung, und sie stand ganz alleine. Die Unterkunft eines Jägers, eines Pechsammlers, eines Köhlers, eines Zeitlers vielleicht? Unwichtig. Wie es schien, waren die Bewohner der Hütte irgendwo im Wald unterwegs, vielleicht war es auch nur ein gelegentlich genutztes Zwischenquartier. Sie würden mit Sicherheit am nächsten Tag weiterziehen. Für Rufinas Pläne schien die abgelegene Lage günstig. Wenn nur die vier Männer hier übernachteten, dann gelang ihr vielleicht wirklich die Flucht. Aus dem Verschlag entkam sie zwar heimlich nicht, aber bisher war es immer Erkmar gewesen, der sie mit
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