Rheingau-Roulette
wir ein gemeinsames Kind haben?“
Alexandra spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Judith nickte lächelnd. „Es ist so wie immer. Er erzählt nur, dass ich ihn verfolge. Und mit der Mitleidstour kommt er immer weiter. Hat der Sex mit ihm Spaß gemacht?“
Sie trat noch einen Schritt dichter an Alexandra heran. Alexandra konnte den Schimmer des Wahnsinns in ihren Augen erkennen. Sie musste wahnsinnig sein, anders konnte sich Alexandra das Verhalten nicht erklären. Das sanfte Lächeln, das Judiths Lippen umspielte, verzog sich an den Mundwinkeln langsam zu einem höhnischen Grinsen.
„Und jetzt? Was machst du jetzt?“
Alexandra stand stocksteif an die Arbeitsplatte gelehnt. Die Übelkeit, die sie erfasst hatte, forderte ihre ganze Konzentration. Wenn sie in Ohnmacht fiel, wäre sie verloren und die Angst, die ihr beim Blick in Judiths Augen in den Nacken kroch, sorgte dafür, dass ihre Stimme versagte.
Eingefroren, wie eine Eisprinzessin stand Judith vor Alexandra, die Hand fest um die Schere geklammert, so dass die Knöchel wie kleine, vom Eis verharschte Schneehaufen emporragten, und schwieg. Still betrachtete sie Alexandra genau, studierte den Fall der lockigen Haare, die braunen Augen mit den schmalen Brauen, die in stummer Angst auf sie gerichtet waren und die vollen Lippen, die Hannes geküsst hatten. Sie schwieg und Alexandra, in deren Kopf sich eine kleine Stimme erhob, die ihr sagte, „du musst hier raus, wehre dich“, versuchte sich zu mobilisieren, um sich aus ihrer Schockstarre zu lösen.
Für einen Moment herrschte Totenstille in der Küche. Draußen begann ein leichter Sommerregen und kleine Tröpfchen platschten an das Küchenfenster. Aus der Ferne erklang ein Martinshorn und schwoll langsam und stetig an, dann ein Zweites. Ein Hoffnungsschimmer erwachte in Alexandra. Vielleicht hatte Hannes gemerkt, dass Judith bei ihr war. Vielleicht hatte er die Polizei gerufen. Oder Caro hatte etwas gemerkt und hat jemanden geschickt. Sie wandte den Blick kurz von Judith ab und sah aus dem Fenster. Vielleicht konnte sie dort jemanden sehen, der ihr helfen würde.
Der höhnische Ausdruck in Judiths Gesicht änderte sich, als sie die Reaktion von Alexandra bemerkte. Sie seufzte.
„Tut mir leid. Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass Hannes bestimmt nicht kommt, um dich zu retten.“ Sie lächelte sanft. „Er kann auch niemand anderen schicken. Das Martinshorn gehört zu einem Krankenwagen.“ Ihre freie Hand schloss sich wie ein Schraubstock um Alexandras rechtes Handgelenk. „Sein Motorrad hatte bedauerlicherweise einen Unfall. Das Dumme mit diesen Motorrädern ist, dass sie nur zwei Räder haben und so schnell umkippen.“ Sie seufzte erneut. „Wenn mich nicht alles täuscht, waren es mehrere Martinshörner. Scheint ein schwerer Unfall zu sein.“ Über ihr Gesicht zog ein bedauernder Ausdruck. „Tja. Möglicherweise kommt er mit dem Leben davon. Aber was ist das schon für ein Leben, im Rollstuhl?“
Alexandra schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht sein? Sie konnte doch nicht wissen, ob es ein Krankenwagen war, den sie hörte. Und auch nicht, ob Hannes einen Unfall hatte, oder doch?
Judith lachte. Ihr Lachen war glockenhell, sprühte vor Esprit und für einen Moment lockerte sich ihre Hand um Alexandras Arm.
„Du glaubst mir nicht? Dann lass dir gesagt sein, es ist Hannes. Und er hatte einen schweren Unfall, dafür wurde Sorge getragen.“ Ihr Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze und die Hand riss an Alexandras Arm. Sie zischte: „Wenn er überhaupt mit dem Leben davon kommt, dann wird es ein anderes Leben sein, eines ohne Bildhauerei, ohne Sex und ohne Frauen! Er wird leiden, so leiden, wie ich es musste!“
Alexandra erbrach sich. Schwallartig brach es aus ihr heraus, die Angst um sich und Hannes kotzte sich aus ihrem Leib. Der Strahl des Erbrochenen traf Judith im Gesicht und Dekolleté. Erschreckt und angeekelt ließ Judith Alexandras Arm los und trat einen Schritt zurück. Mit einem schnellen Stoß gegen ihre Brust verschaffte sich Alexandra noch etwas mehr Raum. Judith stolperte, rutschte auf dem Erbrochenen aus und fiel, während Alexandra versuchte, an ihr vorbei zum Ausgang zu gelangen. Ihr Fuß glitt ebenfalls auf dem Erbrochenen aus und traf Judith, die ihr schreiend mit der Schere in das Bein stieß.
Alexandra merkte, dass sie getroffen war, aber ihre Angst trieb sie an. Blutend, die Hand auf den linken Oberschenkel gedrückt, rannte sie aus der Wohnung, durch
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