Rheingau-Roulette
flache Hand laut auf ihren Schreibtisch.
„Ich hatte auch eine!“
„Über die du dich ja scheinbar sehr schnell hinweg getröstet hast.“
Alexandra schrie, soweit ihre nicht vorhandene Stimme es zuließ. Es hörte sich an wie das heisere Gebell eines alten Hundes. Wütend gab sie ihrem Drehstuhl einen Schubs.
„Ich kann rechnen, Oliver. Wann ist der Geburtstermin? In sechs Wochen. Das ist der achtzehnte Januar. Warte, lass mich zurückrechnen. Es muss im April gewesen sein. Zwei Tage nach Ostern hatte ich die Fehlgeburt, das war Ende März, also kann es maximal drei Wochen danach gewesen sein.“ Ihre Wut kehrte sich in Verzweiflung.
„Drei Wochen nach meiner Fehlgeburt vögelst du unsere Angestellte. Und schwängerst sie!“ Ihre Stimme brach. Sie schlug die Hände vor die Augen und versuchte den steten Strom ihrer Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte, zu bändigen. Ohne Erfolg.
Rechts, links, rechts, links, rechts, links.
Alexandra merkte, dass sie ihr Tempo abermals angezogen hatte. Sie schaffte es nicht, bei dem Gedanken an diesen Nikolaustag ihre Schritte zu kontrollieren und in maßvollem Tempo zu laufen. Die Wut und die Frustration trieb sie wie rasend vorwärts. Da vorne war schon der Anfang des Rundweges, den sie immer nahm. Normalerweise brauchte sie eine knappe Stunde für ihre Runde. Danach machte sie eine Viertelstunde Dehnungs- und Entspannungsübungen, bevor sie mit leichtem Schritt nach Hause trabte. Heute war sie ihre gewöhnliche Runde in vierzig Minuten gelaufen. Viel zu schnell. Sie spürte, wie ihr Herz bummerte und ihr Puls raste. Als sie sich den Schweiß von der Stirn wischen wollte, merkte sie, dass ihr Gesicht tränennass war. So wie immer, wenn sie an diesen Tag im Dezember zurückdachte. Ausgelaugt und kraftlos ging sie die letzten Meter in ruhigem Schritt. Am Ende des Weges entdeckte sie das neongrüne Jäckchen. Es hing über einem Busch und ihre Besitzerin stand daneben und dehnte sich.
„Hallo, na auch geschafft?“
Alexandra lächelte sie erschöpft an. „Ja, bisschen zu schnell heute für meine Pulsverhältnisse.“
Die Neonfrau lachte.
„Kenn ich. Liegt an der Mucke auf den Ohren. Wenn die zu flott ist, reagiert man unwillkürlich mit einem schnelleren Tritt.“
Sie stand in Schrittstellung und hatte das eine Bein gestreckt, während sie das andere gebeugt hatte. Sie stöhnte leise. „Das Dehnen hinterher finde ich immer am schlimmsten. Eigentlich denkt man ja, man hätte die Qual endlich hinter sich gebracht ...“
Alexandra nickte freundlich zustimmend, aber sagte nichts. Sie begann die gleichen Dehnungsübungen wie die Neonfrau.
„Tschüss, bis demnächst.“
Das Neonjäckchen war fertig, winkte fröhlich und zog von dannen. Alexandra war erleichtert. Die junge Frau war ihr zwar sympathisch, aber zum Small Talk machen fehlte ihr die leichte Stimmung. Ihre Gedanken kehrten zurück zu jenem Dienstag im Dezember, der ihr Leben veränderte.
Nach der Auseinandersetzung mit Oliver, die bis in den frühen Morgen dauerte, rief Alexandra den einzigen Menschen an, den sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen konnte. Ihre Cousine Caro. Sie folgte ihrer Einladung, sofort nach Rangsdorf zu kommen. Tief verletzt, ohne Stimme und unter heftigem Schluchzen hatte sie nur bruchstückhaft erklären können, um was es genau ging, bis ihre Cousine sie mit einer Wärmflasche und einem Fencheltee ins Bett steckte.
Caro, Caroline, ihre geliebte Cousine. Herzensschwester. Persönlich kennengelernt hatten sie sich erst nachdem Caros Eltern über die ungarische Grenze aus der DDR geflohen waren und bei Alexandras Familie vorübergehend Unterschlupf fanden. Seit dieser gemeinsamen Zeit waren sie eher verbunden wie Zwillingsschwestern anstatt Cousinen, die sich erst mit sechzehn Jahren kennen lernten. Unzertrennlich zogen sie nächtelang um die Häuser, machten gemeinsam die Eltern, Lehrer und Männer verrückt. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Die Bindung an Caro war weitaus enger als an ihren Bruder Ralf. In der Nacht, in der Alexandra Caro tränenüberströmt von der Werrabrücke holte, auf der sie in selbstmörderischer Absicht stand, weil sich ihr Freund an diesem Abend von ihr getrennt hatte, schworen sich beide, immer für die Andere da zu sein. Zu jeder Tages- und Nachtzeit und selbst dann, wenn sie auf unterschiedlichen Kontinenten leben würden.
Alexandra schlief dank der Wärmeflasche erschöpft ein und wurde am nächsten Morgen unsanft
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